"Wir werden nicht weinen" - Kindertransporte durchs Dritte Reich, Teil 1

Shownotes

Eigentlich wollte Nicholas Winton Weihnachten 1938 zum Skifahren in die Alpen - doch dann erreicht den Londoner Aktienhändler ein Hilferuf aus Prag: Zehntausende jüdische Familien sitzen dort fest. Ein Geschichts-Podcast über Züge voller Kinder, die quer durch Nazi-Deutschland rollen, und über den Organisator dieser Kindertransporte.

Prag im Winter 1938/39: Die Stadt quillt über von Flüchtlingen, seit Hitler nicht nur Österreich sondern auch das Sudetenland dem Großdeutschen Reich einverleiben konnte. Im ersten Teil zeichnen Martin Herzog und Marko Rösseler nach, wie es Nicholas Winton gelang, 669 Kinder nach England in die Freiheit zu schleusen, die meisten davon per Zug. Ihre Eltern freilich mussten die Kinder zurücklassen, oft ein Abschied für immer.

Wichtige Links zu dieser Sendung: Martin hat ein WDR-Zeitzeichen über diese Kindertransporte gemacht: 01.07.2015 - Todestag von Sir Nicholas Winton

Ende März 2024 kommt ein Spielfilm über das Leben von Nicholas Winton in die Kinos - mit Hollywoodstar Antony Hopkins als alter Nicholas Winton und Helena Bonham Carter als seine Mutter. Hier gibt es schon einmal den Trailer: One Life

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Die Geschichtsmacher: Kindertransporte, Teil 1 – Transkript

Die Geschichtsmacher: Martin Marko, stell dir vor, ein Zug rollt durch Deutschland. Durch Nazideutschland. Es ist 1939. Die Waggons sind abgedunkelt, alle Rollos runtergelassen und innen drin sitzen Kinder, jüdische Kinder, 200 jüdische Kinder.

Die Geschichtsmacher: Marko Und die reisen durch Deutschland.

Die Geschichtsmacher: Martin Die Reisen durch Deutschland.

Die Geschichtsmacher: Marko Wo wollen sie hin?

Die Geschichtsmacher: In die Freiheit. Nach Großbritannien. Die Kinder reisen alle allein. Eine von ihnen ist die 9-jährige Milena Fleischmann und ihre kleine Schwester Eva.

Die Geschichtsmacher: O-Ton Milena Fleischmann I was taken to the railway station on the thirty first of July with my sister and. And what I do know. It was dark.it was night. And I was put on the train with her. And what I remember that as the train was leaving, we held hands and we said, I'm going to say this in Czech: [...tschechisch…] - We're not going to cry.

Die Geschichtsmacher: Martin An viel kann sie sich nicht mehr erinnern. Milena Fleischmann Es war dunkel, sagt sie. Es war Nacht und sie wurde mit ihrer Schwester in den Zug gesteckt. Und als der Zug losfährt, da versprechen sich Milena und ihre Schwester Eva auf Tschechisch. Wir werden nicht weinen.

Die Geschichtsmacher: Marko Transporte von jüdischen Kindern quer durch Nazideutschland 1939 und was aus diesen Kindern geworden ist, darum geht es heute bei...

Die Geschichtsmacher: Intro Die Geschichtsmacher. Von Autorinnen und Autoren des Zeitzeichens.

Die Geschichtsmacher: Marko Martin hat ja lange, lange, lange in London gelebt. In England?

Die Geschichtsmacher: Martin Na ja, drei Jahre.

Die Geschichtsmacher: Marko Das ist doch lange her. Ich habe so lange noch nirgendwo im Ausland gelebt. Und du hast dich da auch ums Zeitzeichen bemüht. Das Zeitzeichen ist - für alle, die dies nicht wissen - eine Sendung des Westdeutschen Rundfunks, die jeden Tag an historische Ereignisse erinnert. Und auch du hast weiter damals als freier Autor in London für das Zeitzeichen gearbeitet.

Die Geschichtsmacher: Martin Ja, und irgendwann bin ich an dem Bahnhof Liverpool Street Station auf ein Denkmal gestoßen und da steht eine Bronzegruppe von Kindern, gekleidet im Stil der dreißiger Jahre, mit Koffern in der Hand und Schildern um den Hals, die auf Eisenbahnschienen stehen. Und da bin ich zum Ersten Mal auf das Thema Kindertransporte gestoßen, vor Beginn des Zweiten Weltkrieges. Und ein paar Jahre später, da war ich dann schon wieder in Deutschland, habe ich dann auch zu diesem Thema ein Zeitzeichen gemacht, was eines der Zeitzeichen gewesen ist, die mich am nachhaltigsten auch beeindruckt haben, weil ich die Gelegenheit auch hatte, mit Zeitzeugen zu sprechen, die damals - wie im Vorspann, als wir das gehört haben - von Prag nach London gekommen sind.

Die Geschichtsmacher: Marko Dass du dieses Zeitzeichen gemacht hast, war also deine eigene Idee. Normalerweise - für alle die, die das natürlich nicht wissen - schlägt die Redaktion des Westdeutschen Rundfunks den Autoren immer ein Thema vor. Du hast das selber vorgeschlagen, weil du dieses Denkmal gesehen hast.

Die Geschichtsmacher: Martin Das kann ich dir jetzt gar nicht mehr sagen. Das kann sein, dass ich das irgendwann mal dann damals vorgeschlagen habe. Und dann ist es, wie das so ist, von der Redaktion in so eine lange Liste aufgenommen worden an möglichen Themen und dann wurde das Thema auf die Agenda gesetzt und dann habe ich es gemacht.

Die Geschichtsmacher: Marko Die Idee unseres Podcasts hier ist ja, dass wir Themen, die im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, nämlich im Zeitzeichen, nur eine Viertelstunde lang sein dürfen, maximal, dass wir hier länger drüber reden. Und das ist sicherlich ein Thema, über das kann man ganz lange reden.

Die Geschichtsmacher: Martin Und das wollen wir heute dann auch in zwei Folgen tun, also heute und in zwei Wochen.

Die Geschichtsmacher: Marko Diese Geschichte: jemand schafft es, jüdische Kinder quer einmal durch Nazideutschland nach England zu lotsen, für mich war die erst mal unbekannt. Ich habe das noch nicht gehört.

Die Geschichtsmacher: Martin Das ist auch eine Geschichte, die in Deutschland nicht so wahnsinnig weit verbreitet ist. In England kennt die jeder.

Die Geschichtsmacher: Marko Ist das so?

Die Geschichtsmacher: Martin Das ist so. Auch diese Kindertransporte, das muss man vielleicht dazusagen, "Kindertransport" ist ein Wort, was es in den englischen Sprachgebrauch geschafft hat. Also das ist ein stehender Ausdruck für das, was da 1939 passiert ist. Und was dann eben auch übernommen worden ist: Children Transports oder Kindertransport, das ist dann der Begriff, der dafür benutzt wird.

Die Geschichtsmacher: Marko Und das geht zurück auf die Zeit, wo es darum geht, Kinder aus Nazideutschland in Richtung Freiheit, in Richtung England zu bringen.

Die Geschichtsmacher: Martin Richtig, Kindertransporte, das waren eben Transporte von jüdischen Kindern, meist per Zug oder per Schiff aus dem deutschen Reichsgebiet in die Aufnahmeländer. Da war Belgien dabei, war Holland dabei, aber eben auch Großbritannien. Und das Ganze wurde organisiert von Hilfsorganisationen. Und der Ort, wo diese Kinder ankommen, das war eben Liverpool Street Station in London.

Die Geschichtsmacher: Marko Nun hast du mit Leuten gesprochen, die heute natürlich Erwachsene, wahrscheinlich sogar schon ältere Semester sind und die als Kinder mit in diesem Zug gesessen haben. Und dieser Zug, von dem wir am Anfang gehört haben, der ist in Prag gestartet. Prag ist 1939, gehört noch nicht zum Deutschen Reich. Der Zweite Weltkrieg hat noch nicht angefangen. Wir sind also vor dem Start des Zweiten Weltkrieges. Das heißt, die sind im Ausland gestartet, quer durch Deutschland durch, um dann nach England zu kommen.

Die Geschichtsmacher: Martin So ist es also in der Tat. Prag ist damals nicht Reichsgebiet. Es gab zahlreiche Kindertransporte. Kommen wir gleich noch dazu, die eben dafür gesorgt haben, dass jüdische Kinder aus dem deutschen Reichsgebiet ins Ausland kamen. Und bei Prag ist das aber nicht der Fall gewesen. Und das ist eigentlich auch der Dreh- und Angelpunkt dieser Geschichte. Ich habe die Gelegenheit gehabt, damals vor vier Jahren, als ich das Zeitzeichen gemacht habe, mit zwei Zeitzeugen zu sprechen, mit John Fieldsend und mit Milena Grenfell-Baines, die wir da ganz am Anfang schon gehört haben, Milena Fleischmann. Die habe ich vor vier Jahren interviewt...

Die Geschichtsmacher: Marko Beide wahrscheinlich schon sehr, sehr fortgeschrittenen Alters?

Die Geschichtsmacher: Martin Ja, die waren damals schon über 90 Jahre alt, aber extrem wach und wirklich auch als Menschen, als Zeitzeugen, sehr, sehr beeindruckend, wie ich gefunden habe.

Die Geschichtsmacher: Marko Das heißt, als sie in dem Zug saßen, waren die wie alt ungefähr?

Die Geschichtsmacher: Martin Milena war neun und John Fieldsend, damals Hans Feige hieß er, es waren deutsche Kinder, die hatten deutsche Namen. Und John Fieldsend alias Hans Feige war damals sieben Jahre alt.

Die Geschichtsmacher: Marko Das heißt, die haben auch beide ihre Namen geändert?

Die Geschichtsmacher: Martin Ja, also die Vornamen teilweise eben aus Hans Feige wurde John Fieldsend und aus Milena Fleischmann wurde Milena Grenfell-Baines.

Die Geschichtsmacher: Marko Nun steckt man zwei kleine Kinder einfach mal in einen Zug und die fahren einmal quer durch Europa und werden vielleicht ihre Eltern nie wiedersehen. Das ist mal ein Schnitt.

Die Geschichtsmacher: Martin Ja, das ist ein Schnitt. Natürlich für die Eltern, die ihre Kinder in fremde Hände geben, in ein fremdes Land schicken, zu Pflegeeltern, die sie nie gesehen haben. Die Pflegeeltern haben die Kinder nie gesehen. Also in eine große Unsicherheit. Das ist natürlich für die Eltern sehr hart, aber für die Kinder natürlich extrem traumatisierend, also für die meisten Kinder traumatisierend. Milena Grenfell-Baines hat mir erzählt, dass es für sie eigentlich gar nicht so dramatisch war. Für sie fühlte sich das eher an wie ein Abenteuer, weil sie einfach nicht gedacht hat, dass das auf Dauer sein würde, diese Trennung von den Eltern. Die Kindertransporte kamen fast alle im Londoner Bahnhof Liverpool Street Station an, habe ich ja eben gesagt. Und dort wurden sie dann von ihren Pflegefamilien abgeholt. Und Milena Grenfell-Baines beschreibt die Ankunft in diesem Bahnhof so.

Die Geschichtsmacher: O-Ton Milena Fleischmann We came to Liverpool Street Station in London. And there the children were collected by the various English families that had promised to look after them. We were collected by a gentleman who eventually we got to know is Daddy Ratcliff. and he took us on the train to a small town called Ashton-under-Lyne, not far from Manchester. And they lived in a very small house in England, these are known as terrace houses. with just a main front room and a kitchen. The kitchen had a bath in it and two bedrooms. And they had a 15 year old daughter called Mary and said that because they didn't want to separate us, they sent their own daughter to live with a grandmother so that they would have a room for us.

Die Geschichtsmacher: Martin Also Milena und Eva wurden von einem Herrn dann in Liverpool Street Station abgeholt, den sie später Daddy Ratcliff genannt haben. Und mit dem ging es dann wiederum in einem Zug in eine kleine Stadt namens Ashton under Lyne, das ist da oben irgendwo in Mittelengland bei Manchester. Und die Familie lebte da in einem dieser ganz typischen kleinen englischen Reihenhäuser, die man so kennt. Terrace Houses heißen die, so eins ans andere geklebt. Und die sind alle sehr, sehr schmal, meistens dann über zwei oder drei Etagen, haben nur einen Hauptraum, zwei Schlafzimmer und eine Küche. Und in der Küche war dann auch das Bad untergebracht. Und diese Familie hatte eine 15-jährige Tochter, erzählt Milena. Weil sie die beiden Schwestern nicht trennen wollten, haben sie dann ihre eigene Tochter bei der Großmutter untergebracht.

Die Geschichtsmacher: Marko Das sind ja erstaunliche Geschichten, wenn man sich überlegt, 1939 Die eigenen Eltern geben diese Kinder in einen Zug. Dieser Zug fährt einmal quer durch Nazideutschland, wo man als Jude nicht erwünscht ist. Man kommt in England an, bei Eltern, die einen nicht kennen und die man selber auch noch nicht kennt. Die Eltern haben sich dazu bereit erklärt, diese Kinder aufzunehmen. Freiwillig, kriegen dafür erst mal kein Geld.

Die Geschichtsmacher: Martin Nein.

Die Geschichtsmacher: Marko Die machen das also, weil sie glauben, dass diesen Kindern eine düstere Zukunft in Nazideutschland bevorsteht.

Die Geschichtsmacher: Martin Ja.

Die Geschichtsmacher: Marko Jetzt stell dir das mal heute vor.

Die Geschichtsmacher: Martin Das habe ich mir auch gedacht. Also es ist ja nicht so, als gäbe es in dieser Welt keine Kriege und kein Leid und kein Elend, wo vor allen Dingen eben auch Kinder darunter zu leiden haben. Und jetzt stell dir mal vor, zum Beispiel Ukraine Krieg und es hätte so eine ähnliche Situation gegeben. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob es so eine große Bereitschaft geben würde, heute, zu einer Zeit, wo die Wohnungen doch deutlich größer sind und die Häuser und man in der Regel doch etwas mehr Platz hat. Ich bin mir nicht sicher, ob es heute eine ebenso große Bereitschaft gäbe, einfach fremde Kinder bei sich aufzunehmen.

Die Geschichtsmacher: Marko Und das eigene Kind, in dem Fall ja bei den Großeltern zu parken, weil man dafür einfach keinen Platz hat.

Die Geschichtsmacher: Martin Und was damals auch noch dazukam: Die Pflegefamilien mussten nicht nur das Kind aufnehmen, sondern sie mussten auch dafür bürgen, dass das Kind nicht dem britischen Staat auf der Tasche liegt. Die mussten also eine Bürgschaft hinterlegen.

Die Geschichtsmacher: Marko Wenn wir heute uns quer stellen, Kinder sogar aus Kriegsgebieten vielleicht aufzunehmen und sich vielleicht der eine oder andere sogar damit vielleicht schwertun würde zu sagen: Komm, liebes ukrainisches Flüchtlingskind, du kannst bei uns wohnen, wir bürgen sogar für dich. Das muss man sich mal vorstellen. Ja, das haben die damals gemacht. Und man muss dazu sagen: In Europa herrscht noch kein Krieg. Wir sind im Juli 1939.

Die Geschichtsmacher: Martin Genau. Alles läuft auf den Krieg zu. Die Befürchtungen sind da. Es gab das Münchner Abkommen, um Hitler von einem Krieg abzuhalten. Da können wir gleich vielleicht noch darüber sprechen.

Die Geschichtsmacher: Marko Müssen wir, Müssen wir.

Die Geschichtsmacher: Martin Aber es war klar: So wird es nicht weitergehen. Und nicht nur in Deutschland nicht, sondern eben auch in der Tschechoslowakei war klar: Das Leben, so wie es bisher stattgefunden hat, ist zu Ende. Und die Kinder, die da in den Zug gesetzt wurden, da könnte es durchaus sein, dass die dieses Land nie wieder sehen würden und und auch ihre Eltern und Großeltern nie wiedersehen würden. Und so hat Milena Grenfell-Baines, damals Milena Fleischmann, hat von ihrem Großvater eine kleine Notiz mitbekommen. Eine kleine Postkarte, vielleicht magst du mal vorlesen...

Die Geschichtsmacher: Marko liest Abschiedspostkarte Liebe Milena, denkt daran, eine gewissenhafte Tochter für das Land zu sein, in dem du jetzt leben wirst. Deine Eltern und dein Großvater lieben dich sehr.

Die Geschichtsmacher: Marko Ja. Kurzer Abschiedsbrief.

Die Geschichtsmacher: Martin Ja, aber das Wichtigste ist ja drin und auch so die Bitte oder das Drängen darum, dem Heimatland und der Pflegefamilie, die sie jetzt aufnehmen wird und sich im Folgenden um sie kümmern wird, denen auch Dankbarkeit zu zeigen.

Die Geschichtsmacher: Marko Das heißt, Kinder steigen in der noch freien Tschechoslowakei in Prag in einen Zug, fahren einmal quer durch Nazideutschland, um dann in England von einer Familie aufgenommen zu werden, die sie noch nicht kennen und die die Kinder auch noch nicht kennen. Und das ist doch alles sehr kompliziert. Das muss ja irgendwie organisiert sein. Wer steckt denn dahinter?

Die Geschichtsmacher: Martin Da steckt hinter ein Mann namens Nicholas Winton, ein Banker, ein Wertpapierhändler aus London.

Die Geschichtsmacher: Marko Oh Gott. Oh, Gott. Oh Gott. Ganz allein macht der das?

Die Geschichtsmacher: Martin Nein, natürlich macht er das nicht ganz allein. Also er hatte eine Gruppe von Helfern. Er hatte auch eine Hilfsorganisation. Aber letztendlich ist er die Hauptperson und der Motor dieser ganzen Aktion gewesen, die am Ende dafür gesorgt hat, dass acht Züge mit insgesamt 669 Kindern aus Prag nach London gebracht werden konnten.

Die Geschichtsmacher: Marko Der lebt in England, normalerweise...

Die Geschichtsmacher: Martin In London, ja.

Die Geschichtsmacher: Marko In London und ist da Banker. Was hat ein Banker in London mit Kindern in Prag zu tun?

Die Geschichtsmacher: Martin Erst mal nichts. Er ist dazugekommen im Prinzip wie die Jungfrau zum Kinde. Vielleicht ein bisschen zum Hintergrund von Nicholas Winton. Der ist 1909 in London geboren, als Nicolas Wertheim.

Die Geschichtsmacher: Marko Ein deutscher Name.

Die Geschichtsmacher: Martin Ein deutscher Name, eine deutsche Familie, eine jüdische Familie, die dann zum Christentum konvertiert ist und nach England ausgewandert ist. Zwei Jahre vor seiner Geburt sind die in London angekommen. Der Name, den haben sie zweimal geändert, einmal im Ersten Weltkrieg, von Wertheim zu Wortham. Das klang besser im Ersten Weltkrieg.

Die Geschichtsmacher: Marko Im Ersten Weltkrieg will man nicht Wertheim heißen und in England leben.

Die Geschichtsmacher: Martin In England war das nicht so sehr gewünscht und gut gelitten. Das klang englischer. Und 1938 haben sie den Namen erneut geändert. Zu Winton. Damals ist der Vater gestorben und dann hat man den Namen aus irgendwelchen Gründen geändert. So. Also nach der Schule ist Nicholas seinem Vater gefolgt und ist Banker geworden. Ohne große Begeisterung allerdings. Er hat dann bei Banken in England gearbeitet, in Hamburg und in Berlin, unter anderem bei der Deutschen Bank. Also er spricht auch gutes Deutsch. Und 1931 dann hat er auch noch bei der Banque Nationale du Crédite in Paris gearbeitet und ist dann nach London zurückgekehrt und hat dort als Broker gearbeitet, also eben als Wertpapierhändler.

Die Geschichtsmacher: Marko Also eigentlich ein kapitalistischer Mensch.

Die Geschichtsmacher: Martin So sollte man denken. Das Erstaunliche ist aber: Er ist kein Erzkapitalist, so wie man sich das vorstellt, sondern ist eher im linken Spektrum verortet. Also hat so eine ganz starke soziale Ader.

Die Geschichtsmacher: Marko Der linke Broker.

Die Geschichtsmacher: Martin Der linke Broker ist Mitglied der Labour Party gewesen und da habe ich mich mal kundig gemacht. In den 1930er Jahren waren die auch nicht wirklich sozialdemokratisch, sondern wirklich sozialistisch unterwegs. Also Vergemeinschaftung von Produktionsmitteln, Verstaatlichung ganzer Industriezweige, Planwirtschaft usw. Also das war schon sehr, sehr weit links und das ist dann schon sehr erstaunlich, dass so jemand dann an der Londoner Börse arbeitet. Ich habe mit seiner Tochter Barbara Winton auch gesprochen. Die hatte 2014 eine Biografie über ihren Vater veröffentlicht, und ich habe gefragt, wie denn ihr Vater so drauf war mit dieser seltsamen Kombination aus Beruf und politischer Orientierung. Sie hat gesagt, dass ihr Vater im Prinzip ein sehr typisch britischer Mensch gewesen ist. Eher zurückhaltend, nicht wirklich sehr emotional. Nicholas Winton wurde in einer Zeit geboren, in der man seine Emotionen nicht so richtig gezeigt hat, Also vor allen Dingen in Großbritannien, nicht im edwardianischen Zeitalter. Also benannt nach King Edward, dem Sohn der Königin Victoria. Und da hat man eben gelebt nach dem Motto: Keeping a stiff upper lip. Das ist so ein stehender Begriff im Englischen.

Die Geschichtsmacher: Marko Pokerface?

Die Geschichtsmacher: Martin Pokerface - ja, und vor allen Dingen Rückgrat durchdrücken, weitermachen, kein Aufhebens um sich machen. Und so wie dieser berühmte Spruch, den wir so oft von den Kaffeetassen kennen: Keep calm and carry on...

Die Geschichtsmacher: O-Ton Barbara Winton My father was born in a kind of to the Edwardian era where, you know, you didn't show your emotions and you had a stiff upper lip when you got on with stuff. They learnt to keep going and not make a fuss about things. And he was a very gregarious, outgoing, sociable person. But nevertheless, he wasn't someone who showed his emotions at all. In 1938, my father was a 29 year old stockbroker, so he had a fairly middle class life, big social life. But he had another side to him, which was that he was becoming and had become very political throughout the late thirties. He had seen, you know, the results of the Great Depression in Europe and in the UK. And he had become a member of the Labour Party. And he knew a lot of the main people in the Labour Party, the idealists in the Labour Party. And they talked a lot about what was going on in Europe. So he understood very clearly when the Munich agreement was signed what that meant, you know, that he didn't believe, as many people didn't believe, like the British government did, that this was going to be the end to Hitler's ambitions.

Die Geschichtsmacher: Martin Also sie sagte, dass ihr Vater zwar sehr gesellig und aufgeschlossen und umgänglich war, aber dass er eben seine Emotionen nicht gezeigt hat. 1938 war Nicholas Winton ein 29-jähriger Börsenmakler, eben, der halt ein gutes Mittelschichtleben gelebt hat, ausgeprägte Sozialleben. Aber er hatte eben auch diese andere Seite. Er war politisch sehr interessiert, hatte die Folgen der Weltwirtschaftskrise in Europa und im Vereinigten Königreich gesehen. Und er war eben Mitglied der Labour Party geworden und gut vernetzt in der Partei. Und als das Münchner Abkommen unterzeichnet wurde, da hat er sehr gut verstanden, sagt sie, was das bedeuten würde. Denn er glaubte nicht so, wie es die britische Regierung wohl geglaubt hat, dass dieses Münchner Abkommen das Ende von Hitlers Ambitionen sein würde.

Die Geschichtsmacher: Münchner Abkommen, das müssen wir vielleicht mal erklären. Also 1938, wenn ich es richtig im Kopf hab, da haben sich Chamberlain und Hitler, glaube ich, getroffen.

Die Geschichtsmacher: Martin Mehrfach. Genau in Deutschland, auf dem Obersalzberg und auch hier bei uns um die Ecke in Bonn, in Bad Godesberg, gab es mehrere Konferenzen. Vielleicht zur Vorgeschichte. Was ist die Situation 1938? Also Österreich wurde heim ins Reich geholt, Anschluss von Österreich ans Deutsche Reich.

Die Geschichtsmacher: Marko Auch 38.

Die Geschichtsmacher: Martin Das war 38. Genau. Und dadurch entstand eine sehr lange Grenze zur Tschechoslowakei. Und da sitzt 1938 die deutschsprachige Minderheit der Sudetendeutschen.

Die Geschichtsmacher: Marko Die sollen ja auch heim ins Reich.

Die Geschichtsmacher: Martin Genau.

Die Geschichtsmacher: Marko So wünscht es sich Adolf Hitler.

Die Geschichtsmacher: Martin Ja, und viele andere auch. Die sollen ins Reich geholt werden. Da gibt es seit langer Zeit auch Nationalitätenkonflikte. Und Hitler will natürlich nicht nur die Sudetendeutschen heim ins Reich holen, sondern auch das zugehörige Territorium. Jetzt ist natürlich die Frage: Wie machst du das? Wie kommst du da ran an dieses Gebiet? Und da ist der erste Schritt, dass man erst mal versucht, über die politische Vertretung dort die Sudetendeutsche Partei, Autonomie-Forderungen an den tschechischen Staat zu stellen. Also die Sudetendeutschen wollen mehr Rechte, wollen Autonomie.

Die Geschichtsmacher: Marko Kennen wir irgendwo her. Aus der Ostukraine zum Beispiel.

Die Geschichtsmacher: Martin Ja, so was kennen wir. Aber man macht dann natürlich es so, dass man Forderungen stellt, die die andere Seite unmöglich erfüllen kann, weil letztendlich der Staat dann faktisch auseinanderbrechen würde. So, und als zweiten Schritt trommelt man dann international ganz laut und reklamiert das Selbstbestimmungsrecht der Völker und baut Druck auf. Und parallel macht man so ein bisschen militärisches Säbelrasseln. Also man zeigt die Folterwerkzeuge. Wenn ihr hier unsere Autonomie- und Unabhängigkeitsbestrebungen, wenn er denen nicht nachkommt, wir können auch anders. So, dritter Schritt: diplomatische Verhandlungen. Jetzt wird auf internationalem Parkett verhandelt. Und da kommt dann eben der britische Premier Neville Chamberlain ins Spiel.

Die Geschichtsmacher: Marko Auf dem Obersalzberg.

Die Geschichtsmacher: Martin Auf dem Obersalzberg, wo Hitler dann sagt: Wir wollen die Sudetendeutschen heim ins Reich holen, und wir wollen das Territorium. Und wenn wir das haben, dann sind aber auch unsere territorialen Ansprüche alle befriedigt, und dann wollen wir auch nichts weiter mehr. So. Chamberlain ist guten Willens und guten Mutes und glaubt, dass die Abtretung des Sudetenlandes dann auch wirklich das Letzte ist, was Deutschland fordert und akzeptiert diese Forderungen von Hitler.

Die Geschichtsmacher: Marko Die so genannte Appeasementpolitik.

Die Geschichtsmacher: Martin Genau.

Die Geschichtsmacher: Marko So unter dem Motto: Bevor er hier jetzt einen Weltkrieg vom Zaun bricht, geben wir lieber diesem größenwahnsinnigen Adolf Hitler ein wenig nach, damit er Ruhe gibt. Dann gibt er Ruhe, dann hat er sein Sudetenland und Österreich gehört ja eh schon dazu. Und dann ist jetzt aber auch mit Großdeutschland mal genug.

Die Geschichtsmacher: Martin Ja, so hat er sich das gedacht. Aber was passiert ist: Hitler stellt noch mehr unerfüllbare Forderungen. Er droht mit Krieg. Das ist der vierte Schritt. Bis dann am Ende eine internationale Koalition in München ein internationales Abkommen unterzeichnet, was dann eben Deutschland ermöglicht, ins Sudetenland einzumarschieren und den Rest der Welt glauben zu lassen, dass ein Krieg damit dann eben endlich abgewendet ist und Deutschlands Appetit auf neue Gebiete gestillt wäre.

Die Geschichtsmacher: Marko Also wir befinden uns in einer Zwischenphase, wo alle glauben okay, jetzt hat dieser größenwahnsinnige Adolf Hitler erst mal alles, was er braucht, jetzt wird es Ruhe geben. Und niemand ahnt eigentlich, dass im nächsten Jahr 1939 dann der Krieg losbrechen wird.

Die Geschichtsmacher: Martin Also jeder möchte das gerne glauben, aber nicht alle glauben es tatsächlich. Und Nicholas Winton gehört eben zu den Leuten, die das aufmerksam beobachten, aber nicht glaubt, dass Hitler Ruhe gibt. Er ist sehr besorgt über die Lage. Aber natürlich erst mal weit weg vom Kontinent und nicht persönlich betroffen. Er hat da keine Verwandten, keine Freunde auf dem Festland, die da in irgendeiner Form von betroffen wären.

Die Geschichtsmacher: Marko Als Broker wird er sich wahrscheinlich Gedanken machen: Welche Aktien kaufe ich jetzt, damit das in Zukunft gut läuft, mache ich mal eine Wette auf den Krieg.

Die Geschichtsmacher: Martin Wenn er der Erzkapitalist ist, den man normalerweise erwarten würde, würde er es sicherlich tun. Ich weiß davon nicht, dass er das getan ist.

Die Geschichtsmacher: Marko Aber das ist er ja offenbar nicht. Also wie kommt er jetzt irgendwie nach Prag? Und wie kommt er auf diese Kinder?

Die Geschichtsmacher: Martin Ja, übers Skifahren.

Die Geschichtsmacher: Marko Übers Skifahren?

Die Geschichtsmacher: Martin Ja, über Weihnachten 1938. Also, das alles spielt so Mitte, Ende 1938. Und über Weihnachten 1938 ist er mit einem Freund zum Skifahren in der Schweiz verabredet. So wie jedes Jahr. Das ist ein kleiner Freundeskreis und die verabreden sich jedes Jahr. Wir fahren in die Schweiz und da Skifahren und machen uns ein schönes Leben, einen schönen Urlaub. Da freut er sich auch drauf. Und dann bekommt er kurz vor Weihnachten ein Telegramm. Wenn du mal vorlesen magst.

Die Geschichtsmacher: Marko liest: 600 Kinder in Prag und andernorts in der Tschechoslowakei müssen dringend nach England ausreisen. 300 ursprünglich aus Deutschland und Österreich, 300 aus Sudeten- und Niemandsland. Die reale Gefahr erfordert gleiche Behandlung wie die deutscher und österreichischer Kinder. Prag, 22. Dezember 1938. Schmolka, Steiner, Blake.

Die Geschichtsmacher: Martin Und Blake, das ist Martin Blake, der Freund fürs Skifahren, mit dem er sich verabredet hat, ein Lehrer, und der ist in Prag und schickt ihm das Telegramm und sagt: Du musst dich kümmern und du musst kommen. Das heißt, aus der Ski-Nummer wird erst mal gar nichts, sondern statt Ski zu laufen, sagt er. Pass mal auf, wir haben ja ein Problem. Hier sind nämlich diese ganzen Kinder und du musst dich kümmern.

Die Geschichtsmacher: Marko So ist es.

Die Geschichtsmacher: Marko Eine glorreiche Idee eigentlich. Also, mit dem Kumpel wollte er Skilaufen. Und jetzt soll dieser Kumpel die Kinder retten? Der muss ja schon daran geglaubt haben, dass der sozusagen dazu auch bereit ist.

Die Geschichtsmacher: Martin Ja, die waren miteinander befreundet. Auch Blake war Mitglied in der Labour Party und die kannten sich. Und Blake wusste offensichtlich, dass er Nicholas Winton mit so einem Telegramm kriegen kann, sozusagen, und ihn dazu bewegen kann, nach Prag zu kommen.

Die Geschichtsmacher: Marko Jetzt steht hier: Die reale Gefahr erfordert gleiche Behandlung wie die deutscher und österreichischer Kinder. Das heißt, es wurden auch schon jüdische Kinder aus Deutschland und Österreich Richtung England gebracht?

Die Geschichtsmacher: Martin Ja, das, das gab es schon. Das war gerade, hatte da gerade angefangen. Also die Situation in Europa 1938 ist kompliziert, Das müssen wir, glaube ich, noch mal erklären. Also es gab bereits zu diesem Zeitpunkt Kindertransporte aus dem deutschen Reichsgebiet nach Belgien, in die Niederlande und eben nach England. Geplant war das sogar schon viel länger. Also es haben einige Hilfsorganisationen und einige hellsichtige Leute haben das kommen sehen, dass das vielleicht notwendig werden würde. Es gab solche Hilfsorganisationen seit 1933, also seit Antritt der nationalsozialistischen Regierung unter Adolf Hitler gab es Hilfsorganisationen wie zum Beispiel German Jewish Children's Aid, die wohl ganz locker geplant haben: Wenn es hart auf hart kommt, dann müssen wir da die Kinder aus Deutschland rausholen.

Die Geschichtsmacher: Marko Das ist aber sehr hellsichtig, muss man sagen. Also wenn das 1933... erstaunlich, finde ich.

Die Geschichtsmacher: Martin Ja, nun.

Die Geschichtsmacher: Marko 1938 gibt es eine große Zäsur, was das jüdische Leben in Deutschland angeht. Da gibt es die Reichspogromnacht am 9. November.

Die Geschichtsmacher: Martin Genau.

Die Geschichtsmacher: Marko Das heißt, danach ist das Leben für Juden definitiv in Deutschland ein anderes?

Die Geschichtsmacher: Martin Ja, das war das Signal. So, jetzt wird's wirklich ernst. Und von da an begannen wirklich die Planungen auch für solche Kindertransporte, die dann auch Anfang Dezember begonnen haben, 1938. Und zwischen Anfang Dezember 38 und Kriegsbeginn, also 1. September 1939, wurden über 10.000 jüdische Kinder aus dem deutschen Reichsgebiet eben in die Niederlande, nach Belgien, teilweise nach Schweden, Frankreich, Dänemark, Schweiz, vor allen Dingen aber eben auch nach Großbritannien gebracht.

Die Geschichtsmacher: Marko Diese Kinder sind immer allein ausgereist, das heißt ohne die Eltern. Weil die Eltern Deutschland nicht verlassen durften?

Martin: Doch, im Prinzip hätten die Eltern auch Deutschland verlassen dürfen, im Prinzip durften Juden grundsätzlich aus dem Deutschen Reich ausreisen. Das Problem war aber: Wo sollten die hin? Sie mussten ja einen Staat haben, der sie aufnimmt und das war ein großes Problem zur damaligen Zeit. Unter anderem hat dann England sich nach einigem Hin und Her bereit erklärt, dann wenigstens die Kinder aufzunehmen.

Marko: Das heißt es war eher eine humanitäre Maßnahme im Sinne – ja, die Kinder nehmen wir. Aber die Eltern können wir hier nicht gebrauchen?

Martin: Genau.

Marko: Das ist aber hart. Also die Eltern werden nicht reingelassen aber ihre Kinder, die nimmt man durchaus. Mit welcher Begründung?

Martin: Letztendlich Arbeitsmarkt. Also es gab hohe Arbeitslosikeit in den 30er Jahren in Großbritannien und ausländische Arbeitskräfte wollte man nicht haben, die dann den Einheimischen die Arbeitsplätze wegnehmen, das war ein ganz mordernes Argument.

Marko: Das heißt einfach damals politisch nicht durchsetzbar?

Martin: Genau. Die Kindertransporte konnte man durchsetzen, das war als humanitäre Geste akzeptabel. Aber die Erwachsenen hat man nicht reingelassen oder nur ganz wenige. 30.000 sind es ungefähr gewesen, die man in dieser Zeit aufgenommen hat – also keine besonders große Zahl.

Marko: Dem Nazi-Staat war es egal, ob die Juden gehen?

Marko: Martin Genau. Der NS-Staat hat das geduldet und hat die Kinder unter strengen Auflagen ausreisen lassen. Das heißt, sie mussten allein reisen. Sie durften nur einen Koffer, eine Tasche und zehn Reichsmark mitnehmen. Spielsachen, Bücher waren verboten und sie durften eine Fotografie mitnehmen, mitgeführte Wertsachen, Uhren, Ketten, Ringe, das wurde alles beschlagnahmt. Aber diese Duldung der Ausreise von jüdischen Kindern galt nur für das Gebiet des Großdeutschen Reiches, nicht für die Tschechoslowakei.

Marko: Marko Okay, aber jetzt ist also Deutsches Reich 1938, da gehört jetzt mittlerweile Österreich mit dazu. Das Sudetenland gehört jetzt mittlerweile auch dazu.

Marko: Martin Genau.

Marko: Marko Diese Juden waren aber offenbar ja aus dem Sudetenland und Österreich geflohen nach Prag.

Marko: Martin Größtenteils aus dem Sudetenland. Teilweise waren sie auch aus Österreich geflohen nach Prag, weil man gedacht hat okay, da ist noch sicher, da ist noch frei, da sind die Deutschen nicht. Und diese Familien waren dann eben in Prag gestrandet. Zehntausende jüdische Familien und insgesamt waren das - man schätzt so 200.000 Flüchtlinge, die sich in der Tschechoslowakei und die meisten davon in Prag aufgehalten haben.

Marko: Marko Die Zustände in Prag müssen ja dann wahrscheinlich auch erst mal ein riesen Tohuwabohu sein, wenn da so viele deutsche Juden ankommen. Die müssen und wo untergebracht werden, die müssen irgendwo leben, die müssen sich auch irgendwie überlegen, wo gehen sie denn jetzt eigentlich hin? Oder bleiben wir in Prag? So ist die Situation?

Marko: Martin Es gab Flüchtlingslager und die Situation muss elend gewesen sein. Nicholas Winton ist dann nach Prag gereist, auch aufgrund dieses Telegramms und hat sich eben auch in diesen Lagern umgeguckt und hat das Elend da gesehen, was sich da ausgebreitet hat. Denn klar, es gab nicht einfach mal für 200.000 Flüchtlinge Wohnungen in Prag. Also das müssen ganz elende Zustände gewesen sein. Und die Frage war aber: Jetzt sind diese Familien da und es war eigentlich nur eine Frage der Zeit, wann die Deutschen auch in Prag einmarschieren würden. Also nach dem Münchner Abkommen sind die Deutschen ins Sudetenland einmarschiert. Aber es war klar, irgendwann sind die auch in Prag. Und im März 1939 war es dann auch so, da sind die dann auch tatsächlich in Prag einmarschiert. Am 15. März 1939 haben die Deutschen die sogenannte Rest Tschechei besetzt und als Protektorat Böhmen und Mähren unter deutsche Hoheit gestellt. Also da sitzen diese ganzen geflüchteten Familien, wissen nicht wohin. Und dann versuchen sie wenigstens, ihre Kinder in Sicherheit zu bringen. Und Martin Blake, der dieses Telegramm geschrieben hat, der arbeitet für eine englische Hilfsorganisation, die versucht, Kinder nach Großbritannien zu vermitteln. Und der bittet eben Nicholas Winton dann in einem Telegramm um Hilfe. Und deswegen geht es für ihn nicht in den Skiurlaub, sondern nach Prag statt in die Schweiz.

Marko: Marko Der entscheidet auch sofort. Okay, dieser Broker aus England, der eigentlich eher Skiurlaub machen will, der sagt dann: Okay, ich fahr jetzt nach Prag und...

Marko: Martin Ja, offensichtlich hat er das gemacht.

Marko: Marko Was macht er jetzt da? Ich meine...

Marko: Martin Ja, also er kommt an und trifft dann in Prag auf eine Gruppe von Freiwilligen um eine Frau namens Doreen Warriner. Und sie ist da vom British Committee for Refugees from Czechoslovakia.

Marko: Marko Also es gibt schon Organisationen, die sich da offenbar irgendwie kümmern. Ja.

Marko: Martin Ja, der Name klingt jetzt groß: Das waren nicht mal eine Handvoll von Leuten, das waren 3, 4, 5 Leute vielleicht, die versucht haben, da irgendwie was zu reißen in dieser sehr unübersichtlichen und man muss ja auch sagen sehr gefährlichen Situation. Nicholas Winton kommt also da in Prag an, im Dezember, Ende Dezember 1938 und sieht diese Situation und entscheidet sich, zu helfen und mitzutun. Er hat am ersten Tag nach seiner Ankunft einen Brief an seine Mutter geschrieben und den finde ich ganz beeindruckend, wenn du den mal vorlesen magst.

Marko: Winton schreibt an seine Mutter Ich verbrachte einen großartigen Morgen mit Sightseeing in Prags Altstadt und machte eine Menge Fotos. Um eins ging ich Mittagessen, aber dann ging das Treiben los. Jeder, der Miss Warriner sprechen möchte und Informationen oder Hilfe braucht, kann täglich zur Straße Vorsilska 2 kommen. Dort treffen sie auf Barbazetti, Miss Worriners Sekretär und heute auch auf mich und werden bedient. Fragen danach, wie man nach England kommt, als bräuchte es nur einen fliegenden Teppich. Was, nebenbei bemerkt, genau das ist, was es im Moment braucht. Fragen von Eltern, die jeden Preis bezahlen für die Versorgung ihrer Kinder in England, wenn wir nur die Ausreise beschleunigen. Juden, die ausreisen wollen, weil sie sich kein einziges Mahl mehr leisten können. Juden, die ausreisen wollen, weil sie mehr als genug Geld haben. Mütter, die ihre Kinder nach England schicken wollen, sich aber nicht von ihnen trennen können. Wie lange wird es dauern, bis mein Kind ausreisen kann? Werde ich meinem Kind folgen können? Es kann gut sein, dass sie ihr Kind nie wiedersehen wird, wenn wir es schaffen, ihr Kind nach England zu bringen. Also gibt es Tränen, wenn Sie nicht gehen können. Und es gibt Tränen, wenn Sie gehen können. Und dann ist da das Riesenproblem der Mütter, deren Kinder viel zu klein sind, um von ihnen getrennt zu werden. Was kann man da machen? Nun, als Nummer 60 wieder gegangen war, musste ich los.

Marko: Martin Ja, Das war Nicholas Wintons erster Tag in Prag bei dieser Hilfsorganisation. Offensichtlich hat man ihn gleich vom ersten Tag an ins kalte Wasser geschubst. Und er musste da den ganzen Tag Fragen beantworten und, und, und versuchen, jüdische Kinder nach England zu bekommen.

Marko: Marko Aber die sprechen offenbar Deutsch.

Marko: Martin Ja, die sprechen alle Deutsch. Die kommen auch aus dem Sudetenland, Sudetenland oder aus Österreich, teilweise auch aus Deutschland, und sind geflohen dahin. Und die sprechen alle Deutsch. Klar.

Marko: Marko Der Grund, warum sie ihn gleich auch shanghait haben, weil er als Brite trotzdem ja Deutsch spricht, weil er für die Deutsche Bank gearbeitet hat.

Marko: Martin Ja, das wird ein Grund mit gewesen sein. Und offensichtlich hat er den ersten Tag da ganz gut hinter sich gebracht. Und wie das so immer ist bei Hilfsorganisationen, dann wird man gleich einkassiert für mögliche weitere Posten. Ein paar Tage später schreibt er dann nämlich an seine Mutter einen weiteren Brief.

Marko: Brief Wintons an seine Mutter Miss Warriner hat mich gefragt, ob ich Sekretär eines Kinderkomitees für Tschechoslowakien werden könnte, welches ich vorgeschlagen habe zu gründen. Das wird viel Arbeit. Ich habe noch eine schwierige Aufgabe. Könntest du zum Einwanderungsbüro des Innenministeriums gehen und herausfinden, welche Garantien benötigt werden, um ein Kind ins Land zu bringen?

Marko: Marko Also ins Land? Er meint nach England?

Marko: Martin Nach England - natürlich. Ja. Also, er wird Sekretär dieses neu gegründeten Kinderkomitees und hat noch nie was in der Art gemacht. Aber er bleibt jetzt erst mal da über den Jahreswechsel 1938 / 39 bleibt in Prag und unterstützt diese Hilfsorganisation, für die er interessanterweise auch im Englischen das Wort "Kinderkomitee'' benutzt und schreibt regelmäßig an seine Mutter in London, die er dann eben einspannt, um da schon mal nachzuforschen und zu gucken: Was braucht es denn eigentlich, um diese Kinder dann tatsächlich auch zu vermitteln?

Marko: Marko Wir haben eben schon gesagt, aus Deutschland gibt es bereits Ausreisen von Kindern dann nach England und in die Nachbarstaaten von Deutschland, wo sie vermeintlich sicher sind. Jetzt ist es aber die Situation, dass man vom Ausland damals noch irgendwie einmal offenbar durchs Deutsche Reich durch und dann - das war aber auch irgendwie geregelt?

Marko: Martin Das haben auch die deutschen Behörden offensichtlich zugelassen, geduldet und haben gesagt: Okay, wenn diese Transporte eben abgedunkelt und die Kinder nur alleine, ohne Begleitung der Eltern unterwegs sind, dann dürfen die durch deutsches Reichsgebiet eben Richtung Westen ausreisen. Und die Frage ist dann natürlich, es ging ja nicht um ein paar Kinder, es ging nicht um ein paar 100, sondern um Tausende von Kindern. Und die Frage war dann natürlich, wie schafft man die am besten aus Prag heraus nach England? Wir haben eben schon gesagt, es gab schon Kindertransporte per Zug, die aus dem deutschen Reichsgebiet gestartet sind. Und das war dann auch die Perspektive, die man hatte zu sagen: Okay, wir machen diese Transporte per Zug. Aber der erste der Kindertransporte war tatsächlich per Flugzeug. Das war am 12. Januar 1939. Da hat die erste Gruppe von Kindern Prag verlassen. Das waren nur 20 Kinder, und die sind vom Flughafen in Prag dann mit einem Flugzeug nach London geflogen. Und Nicholas Winton war natürlich vor Ort. Und der hat diese Situation beschrieben.

Marko: Winton beschreibt die Ausreise der ersten Kinder Weil es die erste Gruppe war, erregte es viel Aufsehen und Kameramänner und Journalisten haben es dokumentiert. Ich selbst wurde x-mal in allen möglichen Positionen fotografiert, wie ich Kinder halte, anleitet und ihnen helfe. Vom KLM Büro in Prag wurde die gesamte Gruppe in mehreren Bussen zum Flughafen gebracht. Dort herrschte anderthalb Stunden lang eine Mischung aus völligem Chaos, großer Aufregung und leidenschaftlichen Adieus. Jedes Kind schien zehn Angehörige zu haben, der Zahl der Menschen nach zu urteilen. Sie alle wollten bis zum letzten Moment nahe bei ihren Kindern sein, und die Szenen, als sie sich schließlich trennen mussten, waren herzzerreißend. Ich habe kein Kind weinen sehen. Sie waren alle viel zu aufgeregt.

Marko: Martin Das war am 12. Januar 1939. Und danach ist Nicholas Winton zurückgekehrt nach London. Und im Gepäck hatte er eine Liste mit Namen von Kindern, die Pflegefamilien suchen. Und da war jetzt natürlich als erstes mal zu klären, welche. Genehmigungen er dafür bräuchte, er musste mit den Behörden verhandeln. Und er hat gedacht, dass ihm da ein ziemlicher Papierkrieg bevorstünde. Das hat mir seine Tochter Barbara Winton erzählt. Er ist dann zum Innenministerium gegangen und er hat gedacht: So, jetzt muss ich richtig kämpfen.

Marko: O-Ton Barbara Winton So when my father got home and went to the Home Office and said, would this be possible? Thinking he was going to have a real fight on his hands. They said yes. You have two conditions. The first condition is that you must find a foster family for each child You bring in. And the second condition is that you must post a 50 pound guarantee for their repatriation, which is about two and a half thousand pounds today. So it wasn't an insignificant amount of money. But nevertheless, you know, he was given the green light to go ahead.

Marko: Martin Ja: Erstaunlicherweise sagten Sie im Ministerium relativ umgehend: Ja, das geht, das könnt ihr machen unter zwei Bedingungen. Zum einen müsst ihr für jedes Kind, das kommt, eine Pflegefamilie haben. Also es kann nicht sein, dass die hier ankommen und es gibt noch niemanden, der sie aufnimmt. Und ihr müsst eine Kaution von 50 £ hinterlegen. Das entspricht so heute ungefähr zweieinhalbtausend Pfund, also keine ganz kleine Summe, die da die Organisation oder die Pflegefamilie aufbringen musste.

Marko: Marko Das heißt, er muss jetzt erst mal gucken, Pflegefamilien zu finden, die bereit sind, diese Konditionen einzugehen.

Marko: Martin So sieht es aus.

Marko: Marko Stell dir mal vor, du würdest jetzt heute losziehen: Guten Tag, ich würde gern ein Kind aus Syrien hier unterbringen. Sind Sie bereit, 3.000€ Kaution zu zahlen, falls das abgeschoben werden muss?

Marko: Martin Ja, genau so ist es.

Marko: Marko Viel Erfolg.

Marko: Martin Und das ist genau die Aufgabe, die da Nicholas Winton und seine Mutter, die hat ihm dabei geholfen, die Aufgabe, die sie da eben in den nächsten Wochen und Monaten hatten, die haben Sie damit verbracht, Kinder und Pflegefamilien irgendwie zusammenzubringen. Und das war ein ziemliches Puzzlespiel. Viel Papierkrieg natürlich, viel Hin und Her zwischen den Wintons und möglichen Gastfamilien und den Familien der Kinder, die in Gastfamilien aufgenommen werden sollten. Es gibt eine Reihe von Briefen an Nicholas Winton und seine Mutter, die dieses Hin und Her ganz gut beschreiben. Vielleicht magst du denen einen Brief mal vorlesen.

Marko: Brief eines Vaters an Winton Sehr geehrter Herr, ich habe Ihre geschätzte Nachricht erhalten und danke Ihnen herzlichst für Ihre Liebenswürdigkeit, mein Töchterchen Henriette nach England zu bringen. Was Ihre geschätzte Anfrage betrifft, so teile ich Ihnen höflich mit, dass sowohl meine Frau als auch ich alle Schritte zur Auswanderung unternommen haben, jedoch vorläufig besteht keine Aussicht, dieselbe zu realisieren. Wenn also die Möglichkeit besteht, dass mein Töchterchen zu guten Menschen in ihr gastliches Land kommen könnte und uns auch die Hinreise ermöglicht wird, wäre ich Ihnen von ganzem Herzen dankbar. Ganz ergebenst Rudolf und Adele Bardach.

Marko: Martin Ja, solche Briefe hat Winton zu Hunderten bekommen. Und das im wirklich im ursprünglichen Sinne Tragische dabei ist: Von Anfang an war klar, dass sie nicht alle Kinder unterkriegen würden. Das hat Barbara Winton mir erzählt. Die Entscheidung für ein Kind, dass es genommen wird und Pflegeeltern bekommt, bedeutet, dass ein anderes nicht kommen kann. Denn auf den Listen, die er aus Prag mitgebracht hatte, standen Namen von 5000 Kindern.

Marko: O-Ton Barbara Winton The problem, of course, was that there was, you know, about 5000 names on the list. So, you know, there were many more whose families wanted them brought to safety than were able to come. So my father was trying to find ways to get families. And he wrote to the newspapers and he wrote to magazines and he wrote to all these refugee organisations. And in the end, he began to get replies, but it took a long time or the writing backwards and forwards saying we think we might like a child. And, well, do you want a boy or a girl? What age? And all this took a long time. So in the end, he he had photos of all the children taken and he pasted the pictures onto cards with the names, their date of birth and their religious affiliation. And when a family said they would like to take a child, he sent them one of these cards with, you know, girls of roughly the age, they said, and they would just pick one. So it wasn't first come, first served or anything like that. So there were lots of children who didn't get chosen. So it wasn't it wasn't an easy situation or way of doing it.

Marko: Martin Barbara Winton erzählt, wie ihr Vater versuchte, so viele Familien wie möglich zu finden und er schrieb an Zeitungen und Zeitschriften, andere Flüchtlingsorganisationen und irgendwann kamen auch Rückläufer, kamen Antworten, aber das Ganze lief sehr, sehr zäh und es wurde viel hin und her geschrieben. Also wir möchten vielleicht ein Kind. Okay. Wollt ihr einen Jungen oder ein Mädchen? In welchem Alter? Und das alles, dieses Hin und Her dauerte natürlich. Und am Ende hat er es so gemacht, dass er Fotos von allen Kindern machen ließ und die auf Karteikarten klebte, mit den Namen, Geburtsdatum, Religionszugehörigkeit. Und wenn eine Familie sagte, sie wolle zum Beispiel ein Mädchen aufnehmen, dann schickte er ihnen mehrere Karten mit Mädchen in etwa dem gewünschten Alter. Und die haben dann aus mehreren Karten sich dann einfach eine ausgesucht. Also es ging nicht darum quasi der Reihe nach, wer zuerst kommt, sondern das war wirklich so, die Familien, die Pflegefamilien haben gesagt: das Mädchen, den Jungen. Und natürlich gab es viele Kinder, die eben nicht ausgewählt wurden.

Marko: Marko Mann, Mann, Mann, Mann, Mann, das klingt ja schrecklich. Ich meine, man muss sich vorstellen, jetzt ist man Eltern dieser Kinder. Und man weiß jetzt ganz genau, es wird gerade dein Kind sozusagen auf einer Postkarte in England angeboten, damit das da genommen wird.

Marko: Martin: Ja und - also es gibt da auch Briefe und ich habe einen rausgesucht, wo es wirklich einem, also mir jedenfalls, kalt den Rücken runter gelaufen ist, wo ein Junge sich direkt an Nicholas Winton wendet und darum bittet, genommen zu werden.

Marko: Brief eines Jungen in Prag an Winton: Sehr geehrter Herr! So wie es nur ein England gibt, so sagte man mir, so gibt es nur einen Herrn Winton in England. Ich bitte Sie, meine neuen Fotos in Empfang zu nehmen und sie in einer möglichst günstigen Weise für mich zu verwenden. Dem Kinderkomitee hier in Prag sandte ich schon welche, aber ich fürchte, sie waren so schlecht und schuld daran, dass ich noch heute in Prag bin und nicht weiß, was nun mit mir wird. Ich hoffe, Sie sind nicht ungehalten, dass ich Ihnen Deutsch schreibe, aber ich weiß, dass Sie die deutsche Sprache gut beherrschen. Ich bin mit freundlichem Gruß. Good bye. Sincerely Yours. Petr Gottlieb.

Marko: Martin Hm. Also ich weiß nicht, wie es dir geht, aber wenn ich so was lese - Du hörst es - ich hab einen Knoten im Hals.

Marko: Marko Na ja, das Schlimme ist, dass dieser Junge da sitzt und glaubt, er war zu hässlich auf dem Foto, als dass er genommen wird.

Marko: Martin Ja, das ist quasi ein Bewerbungsfoto.

Marko: Marko So ist es. Und es geht um Leben und Tod. Aber das weiß ja noch keiner.

Marko: Martin Ja. Der erste Kindertransport-Zug verlässt Prag am 14. März 1939. Und im Laufe der nächsten sechs Monate werden weitere sieben Züge folgen. Die kommen dann eben alle, die rollen alle durch Nazideutschland...

Marko: Marko Mit Genehmigung.

Marko: Martin Mit Genehmigung, Duldung der nationalsozialistischen Regierung.

Marko: Marko Auch bescheuert mit abgedunkelt als Scheibe, das. Man versteht es ja alles nicht, damit die nicht gesehen werden von außen, damit sie nicht rausgucken können. Man weiß es nicht.

Marko: Martin Man weiß es nicht. Ich nehme mal an, eher umgekehrt, damit man nicht von außen sehen kann, dass da ein Zug vollgestopft mit kleinen Kindern durch die Landschaft fährt. Aber die Motive liegen da auch im Dunkeln. Keine Ahnung. Jedenfalls rollen sie durch Deutschland durch und dann geht es dann über Belgien und oder Holland, dann nach London. Und wie die Ankunft dann verlief, in Liverpool Street Station in London, das hat ein Reporter vom New Statesman beschrieben.

Marko: Reporter des New Statesman Selten habe ich etwas so Bewegendes gesehen wie die Ankunft von 130 tschechischen Kindern an einem Bahnsteig in Liverpool Station letzten Freitag. Eines von ihnen war keine drei Jahre alt, das älteste muss 15 gewesen sein. Polizisten hielten eine Gangway frei mit einem Vorhang in der Mitte. Die Kinder saßen auf Bänken, auf der einen Seite des Vorhangs, die Gasteltern auf der anderen. Wenn sie aufgerufen wurden, gingen die Kinder durch einen Spalt im Vorhang und wurden auf der anderen Seite von ihren neuen Eltern in Empfang genommen. Die Pflegeeltern wissen ein paar Formalien über die Kinder, die sie adoptierten. Die Kinder aber wissen gar nichts über ihre Pflegeeltern.

Marko: Martin Ja, und eines dieser Kinder, die da in Liverpool Street Station ankommen, ist Hans Heinrich Feige, geboren 1931 in Dresden, und da hat er auch seine frühe Kindheit verbracht, bis die Familie vor den Judenpogromen in Dresden geflohen ist, und zwar ins tschechische Vitkov. Das ist ein kleines Örtchen. Hans Heinrich ist damals sieben Jahre alt, als seine Eltern ihn und seinen jüngeren Bruder zum Bahnhof bringen in Vitkov. Und der Zug bringt die Kinder nach Hannover, wo sie dann in einen der Kindertransporte von Nicholas Winton aus Prag umsteigen. Also der hat da extra Halt gemacht und die beiden Kinder sind dann in Hannover zugestiegen und von dort aus sind sie dann über Holland nach England gefahren. Und auch mit Hans Heinrich Feige habe ich gesprochen und er hat mir erzählt, wie sein Vater ihn und seinen Bruder vorher zu sich gerufen hat. Und wie er gesagt hat. Setzt euch, Jungs. Ich habe euch etwas zu sagen.

Marko: O-Ton John Fieldsend My father called my brother and me and said, sit down, boys. I got something to tell you. You're going on a long journey or going to a country called England. We can't come with you for the moment, you and your brother have got to go alone when the troubles are over. Maybe you can come back or we can join you. Then my parents took my brother and me down to the local railway station, put us on a train. And just say goodbye as the train was leaving, my mother took her wristwatch off, passed it through the window to me and said, this is for you to member us by. So they obviously knew more than they told us.

Marko: Martin Sein Vater hat die beiden zu sich gerufen und gesagt: Jungs, ihr werdet auf eine lange Reise gehen in ein Land namens England. Wir können jetzt nicht mit euch kommen. Vielleicht könnt ihr später zurückkommen. Oder wir stoßen irgendwann zu euch. Ja, Und dann brachten seine Eltern die beiden Brüder zum Bahnhof und setzten sie in den Zug. Und als der Zug gerade abfuhr, hat seine Mutter ihre Armbanduhr abgenommen und sie durch das Fenster gereicht und hat gesagt Das ist zur Erinnerung. Und er sagt: Na, Sie wussten offensichtlich mehr als das, was Sie Ihnen gesagt haben.

Marko: Marko Na ja, gut, so würde man es Kindern natürlich verkaufen. Das ist ein großes Abenteuer einmal quer auf die andere Seite des Kontinents zu fahren. Auf der anderen Seite ist, glaube ich, zu dem Moment noch niemandem klar, wie die Geschichte weitergehen wird. Ich glaube, viele werden wahrscheinlich noch hoffen, dass sie sich wiedersehen.

Marko: Martin Ja, natürlich, die Eltern und die Kinder natürlich auch. Beide haben gedacht, wir müssen diese schwere Zeit hinter uns bringen, diese Zeit der Trennung. Und irgendwann werden wir als Familie wieder vereint sein.

Marko: Marko Wie es weiter gegangen ist, wie es dann wirklich ausgegangen ist und wie das Schicksal dieser Kinder nach dem Zweiten Weltkrieg in England fortgegangen ist, das werdet ihr in der nächsten Folge erfahren. Bis hierhin, wenn es euch gefallen hat, dann ...

Marko: Martin ...sagt es allen Freunden und Bekannten, Leuten mit Interesse an Geschichtsthemen. Und wenn es euch nicht gefallen hat...

Marko: Marko Dann sagt es uns aber bitte nur uns. Unter www.diegeschichtsmacher.de findet ihr alle Möglichkeiten, mit uns in Kontakt zu treten und ihr findet noch viele weitere Episoden dieses Podcasts.

Marko: Martin Und auf den Podcatchern und Audio-Plattformen hinterlasst uns gerne gute Bewertungen und Kommentare. Versprochen: Wir lesen alle und freuen uns über jedes Sternchen und Herzchen. Und damit herzlichen Dank und wir hören uns wieder in zwei Wochen bei Die Geschichtsmacher.

Marko: Marko Tschüss!

Marko: Martin Tschüss!

Kommentare (1)

Irene Dänzer-Vanotti

Sehr, sehr eindrucksvoll die beiden Episoden über die Kindertransporte. Wie gut, dass es Menschen gibt, die helfen, wie Nicholas Winton - und wie klein fühlt man sich, wenn man so etwas nicht macht.... unbedingt hören! Vielen Dank!

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