Flakhelfer - Hitlers letztes Aufgebot, Teil 2

Shownotes

Über 770 Jungen und wenige Mädchen mussten ab 1943 im Raum Aachen Dienst an der Flugabwehrkanone - kurz "Flak" leisten. Wie viele der damals gerade mal 15 Jahre alten Flakhelfer den Krieg überlebten und wie ihr Leben danach aussah - darin geht es in dieser Folge dieses Geschichts-Podcasts.

Auch diesmal ist die WDR-Kollegin Michaela Natschke zu Gast bei Martin Herzog und Marko Rösseler. Denn sie konnte nach jahrelangen Recherchen 45 Stunden historisches Audio-Material sichern: Ehemalige Flakhelfer schildern Schülern des Aachener Kaiser-Karls-Gymnasiums im Jahr 1974, wie sie die Zeit als "Hitlers letztes Aufgebot" erlebt haben.

Wichtige Links zu diesem Podcast:

Hier geht es zu Michaela Natschkes persönlicher Homepage.

Grundlage von Michaelas Recherche war ein Buch, das sie auf dem Flohmarkt in Aachen fand, und das mittlerweile komplett online nachlesbar ist: "Mit 15 an die Kanonen". ´ Das WDR-Zeitzeichen, das Michaela zusammen mit unserer Kollegin Irene Geuer, aus den O-Tönen gebaut hat, lief in Erinnerung an den 26.01.1943 - Jugendkriegshilfseinsatz verordnet. Dieses WDR-Zeitzeichen findest Du hier.

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Transkript anzeigen

Die Geschichtsmacher: Flakhelfer, Teil 2

00:00:00: O-Ton Flakhelfer Ich bin ja in der Nacht da gewesen, als in unserer Batterie einige Tote anfielen. Da ist ja eine Luftmine in das Funk-Messgerät reingeplatzt und hat unter anderem auch meinen Stuben- Kameraden Jupp Brandt getötet.

00:00:21: Martin Ein Mann aus Aachen berichtet in den 1970er Jahren von Erlebnissen an der Front als Flakhelfer im Zweiten Weltkrieg.

00:00:30: Marko Willkommen bei...

00:00:31: Intro Die Geschichtsmacher. Von Autorinnen und Autoren des ZeitZeichens.

00:00:47: Marko Und die Autorin eines Zeitzeichen über die Flakhelfer, die an die Front gerufen worden sind 1943 haben wir hier sitzen. Michaela Natschke

00:00:55: Michaela Hallo! Grüß Euch!

00:00:56: Marko Das war dein erstes Zeitzeichen - richtig?

00:00:58: Michaela So ist. Genau.

00:01:00: Marko Wie kamst du dazu?

00:01:01: Michaela Ja, ich habe eben diese Schulstundie in Buchform "Mit 15 an die Kanonen" auf dem Altstadt-Flohmarkt in Aachen gefunden. Und dieser Schulstundie liegen 45 Stunden Tonband-Material zugrunde. Das war eben ein Ausschnitt aus diesen 45 Stunden, die wir da gerade eben gehört haben.

00:01:17: Marko Du hast diese 45 Stunden Tonband-Material aus den 70er Jahren, wo also Schüler ehemalige Flakhelfer befragen, die hast du ausgegraben und du hast dich da durchgekämpft. Und dieser O-Ton stammt aus dieser Sammlung von O-Tönen.

00:01:31: Michaela So ist es. Genau. Also, ich habe jetzt von den 45 Stunden, sagen wir mal 41 gehört. Vier muss ich mir noch anhören, möchte ich mir noch anhören. Das ist ganz spannendes Material.

00:01:41: Marko Und aus diesen [00:01:42]42 [0.0s] Stunden, die du da dir angehört hast, hast du ein Zeitzeichen gebastelt. Ja, zusammen mit einer Kollegin, glaub ich.

00:01:48: Michaela Genau. Das war ein Zeitzeichen, was ich im Januar dieses Jahres für den WDR mit meiner Kollegin Irene Geuer gemacht habe. Das war natürlich - Wie macht man das? Was sucht man aus?

00:02:00: Marko Ein Zeitzeichen ist eine Sendung beim Westdeutschen Rundfunk, muss man kurz erklären, dauert 14 Minuten, ist also relativ kurz. Und wenn man 42 Stunden Material hat, dann hat man ein Problem.

00:02:11: Michaela Ja, ich habe erst mal mehrere Tage, mehrere Wochen mich hingesetzt und das Material gehört. Und ja, ich habe mir versucht, ganz zentrale Punkte Fragestellungen, die für das Zeitzeichen wichtig sind, vorzunehmen, mit der Kollegin zusammen und daraus essentielle O-Töne eben ja zu konzentrieren. Das ist natürlich fast nicht machbar. Also da ist noch ganz, ganz viel unerschlossenes Material eigentlich, was da vorliegt.

00:02:38: Martin Was ist das, was wir da jetzt gerade am Anfang gehört haben?

00:02:41: Michaela Ja, das war jetzt eine Beschreibung des Erlebnisses von einem Großangriff auf Aachen 1944, von einem Flakhelfer, der dort als 15 oder 16-jähriger erlebt hat, wie einer seiner Freunde bei einem Bombenangriff auf Aachen verstorben ist.

00:02:57: Martin Und weil wir - anders als das Zeitzeichen - nicht nur eine Viertelstunde zur Verfügung haben, hören wir uns das jetzt einmal in kompletter Länge an.

00:03:04: O-Ton Flakhelfer In der Nacht selbst fühlten wir uns wie Helden. Wir waren zwar etwas schockiert und auch etwas verängstigt, aber die Nacht selbst hat uns an sich verhältnismäßig ungeschoren gelassen, die wir überlebt. Wir haben also das getan, was wir tun mussten. Wir haben diejenigen, die verletzt waren, die haben wir verbunden. Wir haben aufgeräumt, wir haben die Kantine gelöscht, alle Dinge, die schnell getan werden mussten, die haben wir getan. Aber in den Nächten hinterher, in denen auch Bomben fielen und in denen einige Flakhelfer getötet wurden, da kam dann die Erinnerung an diese eine Nacht in Aachen doch ganz schlimm zum Tragen. Wir waren völlig schockiert, wenn es uns unmittelbar ans Leder ging. Wir beteten laut, wenn die Bomben in unmittelbarer Nähe unserer Batterie runtergingen. Heute kann man da vielleicht drüber lachen oder die Nase rümpfen. Aber der Schock dieser Nacht, der saß so tief, dass wir uns anders nicht helfen konnten, als irgend etwas von uns geben. Wobei ich noch nicht mal sagen muss, dass das vielleicht nun aus einem ganz tiefen religiösen Gefühl herkam, sondern es lag einfach daran: Man war so erzogen, dass man eben in solchen Situationen sich nur noch an den wandte, von dem man sich noch etwas versprechen konnte. Das war also die Nacht und die Nächte darauf, die uns zu schaffen gemacht haben.

00:04:56: Marko Der Tod der Mitschüler, der einen dann zum Beten bringt, während die Bomben noch fallen. Und wenn er sagt, er glaubt, er hat sich an den gewandt, von dem er noch was erhoffen konnte, das war der liebe Gott, offenbar der Führer da schon nicht mehr.

00:05:09: Martin Gab nicht mehr viel zu hoffen.

00:05:10: Michaela Nee, also das ist erst mal, finde ich, sehr beeindruckend. Oder immer noch, wenn ich das höre. Die Jungs haben funktioniert. Ja, die haben das Nötigste getan, wie der Mann sagt. Die haben aufgeräumt, die Verwundeten verarztet.

00:05:26: Martin Man muss immer noch mal dazu sagen Wir haben es hier mit Kindern zu tun. Das sind 15-jährige, 16-jährige.

00:05:32: Michaela Die haben also so wie der Herr das beschreibt, mit einem Abstand von 30 Jahren, ja, ist es natürlich total traumatisierend. Also dieses Verarbeiten von so einem Erlebnis kommt dann erst später. Aber in dem Moment, dass das - da ist man so geschockt, da funktioniert man, da ist der Adrenalin-Pegel so hoch, da tut man das Nötigste. Also dass das eine totale Überforderung ist, wäre ja für jeden Erwachsenen schon nachvollziehbar. Aber Jugendliche in dem Alter, das ist total klar. Und ich denke mal, das Allerschlimmste ist dann wahrscheinlich wirklich, wenn man dann der Überbringer einer solchen Todes-Botschaft für die Eltern dann auch noch ist. Und das hören wir jetzt im nächsten O-Ton. Da hört man einen ostbelgischen Flakhelfer, der in Aachen gedient hat.

00:06:17: O-Ton Flakhelfer So nachts um 1:00, vielleicht um 1:30, kamen die Eltern von Markgraf zu unserer Batterie. Der Angriff hatte schon stattgefunden, und es waren so viele Bomben gefallen auf unsere Batterie und Markgraf war tot. Da kamen die Eltern so am Eingang, also längs der Helferich-Straße da, und suchten nach dem Herbert, wenn ich mich gut erinnere, heißt er Herbert oder Hans. Wo ist Hans? Und da war ich gerade am Eingang. Nicht wahr. Der Angriff war zu Ende. Keiner kümmerte sich um die Eltern. Ja, ich glaube, ich habe Folgendes gesagt: Dem Herbert geht es nicht gut, und da kamen andere. Und da wurden sie gewahr, dass er tot war. Nich wahr. Und ich war sehr mitgenommen von dem. Das war ein Freund.

00:07:16: Martin Das ist also ein Mann aus Ostbelgien, der bei den deutschen Dienst tun muss?

00:07:21: Michaela Ja, also

00:07:23: Martin Also ein Junge, damals ein 15-jähriger Junge.

00:07:26: Michaela Ja, also die Ost-Belgier waren ja von den Deutschen besetzt Ost-Belgien und die Ost-Belgier waren dann so genannte "Beute-Germanen" in Anführungsstrichen - also ein fürchterlicher Begriff. Dass die, dass die belgischen Jugendlichen auch wie die Deutschen, wie die Aachener eben auch zum Kriegsdienst an der Flak verpflichtet wurden.

00:07:46: Martin Also wir sprechen über dieses Gebiet Eupen-Malmedy.

00:07:48: Michaela Richtig,.

00:07:50: Martin Das immer hin und her gewandert ist zwischen Deutschland, war mal deutsch, war mal belgisch und war dann eben zu Beginn des Krieges dann ja besetzt und nach Deutschland eingemeindet worden. Das heißt die Jugendlichen, die Jungs auch eben im Alter von 15, 16 Jahren, die da in Eupen, Malmedy, St Vith zur Schule gegangen sind, die mussten auch mit rein.

00:08:10: Michaela Richtig, genau. Kein Unterschied gemacht. Auch Mädchen. Es gab auch ostbelgische Mädchen, aber wie bei den Deutschen halt auch im Verhältnis sehr gering. Und ja, das war einer dieser ostbelgischen Flakhelfer. Genau.

00:08:21: Marko Als "Beute-Germanen" wurden die bezeichnet?

00:08:23: Michaela Ja, weil man sie ja quasi einverleibt hat. Das war natürlich eine sehr makabere Bezeichnung. Aber...

00:08:30: Marko Fühlten die sich als Beute, oder oder...?

00:08:33: Michaela Also eigentlich nicht, weil auch dort natürlich die Indoktrination durch HJ auch stattgefunden hat. Also für die war es teilweise - nicht für alle - aber für die war es eben teilweise auch "normal" in Anführungsstrichen, dass sie eben an der Flagge dann dienen mussten.

00:08:48: O-Ton Flakhelfer Ich muss sagen: Wir waren hier daran gewöhnt. Wir waren 1940 als Deutsche erklärt worden und wir hatten das akzeptiert. Der Großteil von uns, nicht alle, aber ich persönlich fühlte mich damals als Deutscher, das muss ich sagen. Und die Uniform trugen wir schon seit 1940, das heißt die HJ-Uniform. Wir waren in der HJ tätig, und ich kann auch nicht sagen widerwillig, weil das, was man uns damals bot als junge Menschen: Wir lernten reiten, wir lernten Motorradfahren, wir gingen auf Lager, wir machten Geländespiele, wir lernten Karten lesen, das waren an sich Dinge, die uns als Jugendliche begeisterten. Ich war damals zwölf Jahre alt, als das losging, 1940, und dann kamen alle unsere älteren Jahrgänge vor uns. Die kamen zur Flak und ich habe das als ganz normal empfunden, dass ich auch zur Flak kam.

00:09:46: O-Ton Flakhelfer Ja, ich muss sagen, ich glaube eben habe ich schon gesagt, man, man freute sich ein wenig, da zur Flak zu kommen. Man wäre lieber Marine-Helfer geworden, weil die Uniform noch schmucker war, und man war mit einer gewissen Begeisterung dabei.

00:10:06: Zwischenfrage Wie hast Du das empfunden.

00:10:06: O-Ton Flakhelfer Genauso. Nur ist man stutzig geworden, fand ich, wie manchmal Ausdrücke fielen wie Beutegermanen oder so etwas. Da wurde man ein bisschen stutzig und hat die Sache ein bisschen anders betrachtet.

00:10:19: Zischenfrage Von wem auch kamen die, diese Ausdrücke?

00:10:22: O-Ton Flakhelfer Die Ausdrücke kamen in dem Moment vielfach von den Kollegen, von den Luftwaffenhelfern aus dem Inneren des Landes.

00:10:30: Zwischenfrage Nicht aus der Aachener Gegend.

00:10:33: O-Ton Flakhelfer Doch auch ein bisschen aus Aachen. Ja, und wie er...

00:10:38: O-Ton Flakhelfer Aber das war nachgeplappert, war Scherz.

00:10:43: Zwischenfrage Sollte das eine Barriere bilden?

00:10:46: O-Ton Flakhelfer Ja, wir dürfen. Ich weiß nicht, was die Aachener jetzt erzählt haben, aber wir wissen nun immerhin von damals und aus einer Erinnerung. Wenn man jetzt nachträglich alle Leute hört, dann ist ja in Deutschland keiner mit Herz und Seele dabei gewesen. Man muss das jetzt mal nehmen, wie es ist, Aber das waren auch junge Menschen. Und bei dieser ganzen Sache. Wir wussten nichts von KZ, wir wussten nichts von von von von Juden-Verbrennungen und ähnlichen Dingen. Wir waren wirklich etwas vorgeführt, was, was jeden Jungen normalerweise begeistern muss.

00:11:22: Michaela Ja, also ich glaube, das ist schon ein O-Ton - hier hört man den Herrn Emunds zwischendurch im Gespräch mit drei ost belgischen Flakhelfern.

00:11:32: Martin Emunds - das ist der Lehrer..

00:11:32: Michaela Der Lehrer, der die Untersuchung. Genau. Der Lehrer, der die Studie in den 70er Jahren am Kaiser-Karls-Gymnasium mit Schülern durchgeführt hat, die dann eben die Flakhelfer interviewt haben. Hier hört man ihn selber im Gespräch mit drei ostbelgischen Flakhelfern. Und diese Offenheit, mit der die Herren da sprechen, das ist schon - habe ich beim Durchhören dieses ganzen historischen Zeitzeugen-Materials schon so empfunden, dass die ostbelgischen Herren sehr offen, auch teilweise sehr emotional sprechen, also ein bisschen anders als man das bei den Aachener oder deutschen Flakhelfern hört. Die sind doch eher teilweise etwas gesetzter. Nicht alle, aber die Ostbelgier sind auffallend offen und emotional sehr, sehr klar. Ja, und ich finde, das hört man auch gerade sehr eindrücklich im folgenden O-Ton, wo es rückblickend auch um um die Einschätzung, die Bewertung dieser Zeit geht.

00:12:24: O-Ton Flakhelfer Heute sagen wir unseren Kindern, dass das ein absolutes Verbrechen war. Wirklich Kinder aus den Familien herauszureißen und in einen direkten Militärdienst zu stecken. Wenn ich schon nicht von den Gefahren spreche, die da körperlich mit verbunden waren. Aber diese psychologische Trennung von 15 Jährigen aus dem Elternhaus, besonders in den Jahren, wo man das Elternhaus besonders nötig hat.

00:13:01: Frage Obwohl man es nicht glaubt.

00:13:02: O-Ton Flakhelfer Da glaubt man es nicht, aber da hat man es sehr nötig und kommt dann sozusagen in ein in ein wildes Lager. Denn all das, was um uns war, wenn wir auch etwas davon getrennt waren, wir kriegten das aber alles mit, was bei den Soldaten passierte, und das war ein hauptsächlich, wenn ich es so nennen will, psychologisch ein - ja, eine Vergewaltigung.

00:13:32: Martin Psychologische Vergewaltigung, sagt er. Das ist ein starkes Wort. Was meint er damit genau?

00:13:38: Michaela Also der Mann spricht ja davor von, dass sie als 15-jährige in ein wildes Lager geworfen wurden. Also Sie haben als Jugendliche mitbekommen, wie soldatisches Leben, ein völlig verrohtes Leben an der Front abging, mit allem, was da zum Kompensieren einer solchen schwierigen Situation vielleicht auch stattfindet. Also es ist teilweise, es wird nicht offen angesprochen, aber es gibt Andeutungen im Gespräch von dem Herrn Emunds mit den Flakhelfer, ob eben auch sexuelle Übergriffe an Jugendlichen stattgefunden haben könnten. Das wird nie klar ausgesprochen. Aber Gespräche gehen so in die Richtung. Das ist eine Sache, ja, dass man dadurch auch Soldaten quasi erpressen konnte, weil man wusste, dass die übergriffig geworden sind. Das sind Sachen, die wurden, wie gesagt, angedeutet. Dann natürlich der Alkohol, ja Saufgelage, um überhaupt diesem Druck irgendwie standhalten zu können, um das überhaupt mental oder psychologisch sage ich mal zu überleben. Der erwachsenen Soldaten - und dann hat man da auch Jugendliche, die, die das dann direkt nebenan ja voll mitbekommen haben. Also das ist natürlich von der Verarbeitung, ja, in so einem Stadium, in dem man sich da befindet als junger Mensch katastrophal eigentlich.

00:14:53: Martin Also eine Traumatisierung definitiv, die da stattgefunden hat. Aber es gab natürlich auch - wir haben es eben gehört, es gab Tote, Verletzte, aber eben auch Tote. Weiß man, wie viele Jugendliche in diesen Einsätzen umgekommen sind?

00:15:08: Michaela Das ist schwierig, da wirklich Zahlen zu bekommen. Man geht ja grob von einer Zahl aus. Circa 200.000 wurden eingezogen in diesen letzten anderthalb Jahren.

00:15:15: Marko Reichsweit dann.

00:15:16: Michaela Bis kurz vor Kriegsende dann - Reichweite genau. In Aachen und Umgebung waren es um die 770. Dadurch, dass man vielleicht, wenn sie es geschafft haben, aus Kriegsgefangenschaft, also nach dem Krieg, zurückzukehren, nach Aachen - wir gehen jetzt von diesem Beispiel aus - kann man eventuell, das ist halt das Schwierige, anhand von Schularchiven gucken: Wer hat das Abitur nachgeholt, der hat überlebt, aber alle anderen. Man weiß nicht, wo sie hingekommen sind. Die sind nicht mal an der Heimatflak geblieben, also nicht mehr in oder um Aachen, sondern sie wurden ja dann auch ins Ruhrgebiet versetzt, nicht in die Industriezentren, wo eben Schwermetallindustrie eben vorherrschend war. Ruhrgebiet, Hamburg...

00:15:56: Marko Ja, überall wo Angriffe erwartet wurden.

00:15:59: Michaela Auch nach Bayern und auch Ausland dann, und das kann man einfach gar nicht mehr zurückverfolgen oder berechnen oder nach einer Datenlage, ob es von diesen 770 wie viele davon letztendlich es geschafft haben, wie viele da gestorben sind, das ist fast unmöglich, das rauszufinden.

00:16:16: Martin Diejenigen, die es dann geschafft haben, die das überlebt haben und die dann traumatisiert wieder zurückgegangen sind, wie ist es denen ergangen? Also ich kann mir vorstellen, dass wenn man da zwei Jahre in einer solchen Umgebung mit diesen Erlebnissen verbracht hat, nicht einfach wieder zurück in die Schule geht.

00:16:35: Michaela Also viele kamen halt in Kriegsgefangenschaft oder haben sich versteckt, um eben von den Amerikanern und den Engländern, die dann ja Deutschland überrollt haben, wie es ja damals hieß, nicht als Soldaten erkannt zu werden. Was was natürlich passiert ist, die sind wie Soldaten, also eben nicht mehr wie Hitlerjungen in Gefangenschaft geraten auch teilweise.

00:16:57: Marko Das ist ja toll - also vorher haben sie sich das sozusagen gewünscht, Soldaten zu sein und wurden aber wie Hitlerjunge und wie Pimpfe behandelt. Und jetzt hätten Sie sich eigentlich lieber gewünscht, Sie wären wieder Kinder?

00:17:06: Michaela Ja, also klar....

00:17:07: Marko Was ich verstehen kann.

00:17:09: Michaela Auf der anderen Seite waren sie natürlich alle froh, dass der Krieg beendet war. Der Umschwung, sage ich mal, in einen Alltag, das war für diese Jungen, die ja komplett in dieses Naziregime hineingeboren waren, indoktriniert waren, das war erst mal schwierig. Also das Thema Schule ist zum Beispiel ganz spannend und das hören wir jetzt mal im nächsten O-Ton, wie das vonstatten geht, wenn man dann sein Abitur nachholen soll.

00:17:31: O-Ton Flakhelfer Die spätere Rückkehr in der Schule war erbärmlich. Denn wir waren alles Verbrecher und Spitzbuben und Schweine. Und ob sie Offizier oder einfacher Mann waren - hier war das Pflaster so rot, dass also jeder, der mit der Waffe in der Hand fürs Vaterland etwas getan hatte, das war also - das war sehr unschön. Dann machte ich ein Halbjahr oder Dreivierteljahr später mein Abitur, ein sehr dürftiges Abitur, und dann saß in dem der der Direktor und der Englischlehrer und Deutschlehrer und was weiß ich was - die einzelnen Fachdisziplinen. Und dann saß ein Education-Officer vom Intelligent Service oder von jedenfalls, also von der englischen Armee und hörte dem Abitur zu. Und wenn Sie also die letzten Engländer noch oder Kanadier oder was es war aus der Gefangenschaft in Erinnerung hatten - also mir blieb das Wort im Halse stecken, als ich da als Schüler ein englischer Offizier, der dieser Sache mit beiwohnt. Und ich habe also auch in Englisch eine fünf gehabt.

00:18:48: Marko Na ja, gut, also das stelle ich mir auch sehr schwierig vor. Das waren die, auf die er vorher geschossen hat und die er vom Himmel holen sollte. Und die sollten jetzt seine Abiturprüfung mit abnehmen. Schwierige Situation.

00:19:01: Martin Und vorher noch. Ich glaube, das müssen wir kurz aufdröseln: Also die sind zurückgekommen und sind quasi als Helden einberufen worden oder als künftige Helden einberufen worden. Soldaten, die dem Vaterland dienen, und sind dann aus der Kriegsgefangenschaft oder wo auch immer her zurückgekommen und waren plötzlich die, ja die Verbrecher und die Schweine und und Verräter.

00:19:24: Michaela Ja, weil keiner wollte natürlich mehr irgendwie. Es gab keine Nazis, nur so um mal platt gesagt auf gut Deutsch. Auf einmal findet hier ein Switch statt. Natürlich. Entnazifizierung geht los und natürlich wollte keiner bei irgendwas beteiligt gewesen sein. Und das ist natürlich dann auch für so junge Menschen, die dann zurückkehren an die alten Orte ihrer Heimat und dort ja auf überhaupt kein Verständnis stoßen, was die wiederum erlebt haben, das ist ja kaum nachvollziehbar. Also die Frage stellt sich auch hier: Sie waren Täter und Opfer gleichzeitig. Das finde ich auch sehr spannend an diesen O-Tönen.

00:20:03: Marko Na ja, also man muss sich auch vorstellen. Also Aachen ist die erste Stadt, die befreit wurde von den Alliierten.

00:20:09: Martin 1944 schon.

00:20:11: Marko Das heißt, der Krieg ging ja im restlichen Reich weiter bis 45 bis Mai 45. Ich kann mir schon sehr gut vorstellen, dass so ein fanatisierter kleiner Hitlerjunge, der jetzt bis jetzt irgendwie geschossen hat, dass der auch weiterhin vielleicht noch, vielleicht sogar viel fanatischer an so was wie den Führer geglaubt haben könnte. Also der kannte ja wirklich nichts anderes.

00:20:33: Michaela Da muss ich ein bisschen widersprechen, weil die meisten wirklich dieser dieser Tonband- Aufzeichnungen geben in der Tat her, dass die sehr früh, also auch schon 44 gemerkt haben, der Krieg ist verloren und wir werden hier verheizt. Also das muss man schon schon klar sagen, dass gerade die Leute aus dieser Generation dem ganz schnell abgeschworen haben.

00:20:54: Marko Na ja, das sagen die 1970 oder in den 70er Jahren, da sind sie ja dann auch schon vorangeschrittene Manns-Gestalten, die sind auch schon 50.

00:21:03: Martin Ja um die 50 sind die dann.

00:21:04: Marko So, das heißt, die haben sich ihr Leben dann auch schon irgendwie zurechtgebogen, die mussten ja damit irgendwie klarkommen.

00:21:09: Martin Hast du den Eindruck gehabt, dass das zurechtgelegte Geschichten sind, oder hast du den Eindruck gehabt, du hast ja nun das ganze Material gehört, dass die da authentisch erzählen?

00:21:18: Michaela Beim Abhören habe ich das Gefühl gehabt, dass so um die 30 % da klar für sich - rückblickend als erwachsene Männer - einen Nutzen in Anführungsstrichen aus dieser Zeit gesehen haben. Also der Punkt der der Kameradschaft, der Zugehörigkeit, des Zurücksteckens, ja, abzuhärten, dass das, was für das spätere Leben, für die eigene Berufs-Biografie gerade was gebracht hat, das war so der Tenor von ja, ich würde mal sagen von 30 %. Wobei diese Herren...

00:21:46: Marko Klingt ja schrecklich unter dem Motto: Da sind wir ja zu Kerlen gemacht worden.

00:21:50: Michaela Die sagen...

00:21:50: Marko Wir sind in 70er Jahren, wir haben die Achtundsechziger-Revolution hier schon hinter uns, die ganzen Langhaarigen, die Bombenleger, das ist ja so die Stimmung damals. Und dann kommt da halt so ein alter Kriegsveteran, und wir wussten noch, was Zucht und Ordnung ist. Das waren ja die Konfrontations-Linien damals.

00:22:08: Michaela Absolut. Also die sagen schon dann auch, das hätte auch später kommen können. Also mit 15 wäre es zu früh gewesen. Aber Sie bewerten es für sich in der Tat so - wie gesagt 30 % von dem, was ich gehört habe - ich kann natürlich nicht für alle Flakhelfer sprechen oder Menschen, die da im Kriegseinsatz waren, dass sie das durchaus abgehärtet hat, ihnen von Nutzen war. Vielleicht ist das auch wirklich nur ein Versuch, irgendwie mit der Zeit, mit den Erinnerungen und den Traumata klar zu kommen? Ich möchte das gar nicht bewerten. Ich kann nur sagen, was ich gehört habe, was ich für einen Eindruck halt habe aufgrund dieser Tonband Aufzeichnungen.

00:22:42: Marko Wenn der eine hier sagt, da war das Pflaster so rot hier in Aachen, da konnte man ja nicht mehr zum Vaterland stehen. So sinngemäß - ja, schwierig, ne.

00:22:53: Michaela Ja, das ist natürlich auch ein krasser Bruch. Also man kann das gar nicht verteidigen. Diese, diese Empfindung und diese Emotionen, die er da ausspricht, das ist jemand, der sich betrogen fühlt. Du bist heiß gemacht worden, in den Krieg zu ziehen, für das 1000-jährige Reich zu kämpfen. Und dann kommst du zurück, und alle anderen sagen: Wir haben nichts gewusst, wir waren nicht in der Partei. Und ich glaube, dass damit auch so konfrontiert zu werden. Das ist natürlich auch mal ein Unrechtsbewusstsein, was man dann aus der Situation heraus haben kann.

00:23:24: Marko Ja, na gut, also. Günter Grass, Nobelpreisträger für Literatur, sicherlich auch eher linksorientiert, war Mitglied der Waffen-SS und hat darüber nie gesprochen. Erst ganz spät, als er den Literaturnobelpreis schon hatte, hat er das ja zum Ersten Mal zugegeben. Das heißt...

00:23:41: Martin Walter Jens, großer Nachkriegs-Intellektueller, auch Flakhelfer-Generation, hat da auch bis kurz vor seinem Tod nicht drüber gesprochen. War auch ein kleiner Skandal um die Jahrtausendwende, wenn ich mich recht entsinne. Also das ist natürlich so eine, so eine Generation von Männern, die dann auch im Nachhinein irgendwie gucken mussten nach dem Zweiten Weltkrieg, wie sie damit umgehen, zurecht kommen und wie offen sie vor allen Dingen damit auch umgehen.

00:24:08: Michaela Ich denk mal: Adenauer-Ära, direkt Bundesrepublik ist in den Kinderschuhen. Die Leute haben das - ja, das war ein Thema, was natürlich erst mal ich denke verschiedene Phasen durchgemacht hatte. Vom Totschweigen - ja, man will das Land wieder aufbauen und dann in den 70er Jahren beginnt so langsam, sage ich mal, diese Aufarbeitung sehr, sehr langsam. Aber sie beginnt. Und ein Aufbegehren natürlich der Achtundsechziger, genau gegen diese Generation. Also es gab ja kaum Parteien in der Bundesrepublik Deutschland, die eben natürlich Mitglieder der NSDAP in ihren eigenen Reihen hatten, Also da waren - so viele Menschen waren in der Partei.

00:24:49: Marko Na, wir sind in einem Deutschland, was natürlich eigentlich wo, wo all die ganzen Schergen von damals, aber auch alle Mitläufer noch mitten in der Gesellschaft standen und auch noch in hohen Positionen in Posten.

00:25:00: Martin In den Behörden, in der Justiz, natürlich auch an ganz entscheidenden Stellen bis hoch zum Bundesverfassungsgericht. Also Nazis sind es bis in die Regierung hinein, Nazis saßen in den höchsten Ämtern.

00:25:11: Marko So, und dann kommt und das ist ja das Spannende, dann macht dieser Lehrer an diesem Kaiser-Karls-Gymnasium in Aachen: Der fasste den Entschluss, all diese Menschen mal zu befragen. Das ist, das ist ja eigentlich erst mal eine super Idee.

00:25:26: Michaela Es war auch natürlich nicht unumstritten, das ist auch klar. Auch in den Gymnasien der damaligen Zeit in den 70er Jahren gab es auch noch Lehrer, die in der Partei waren. Und das ist auch was, was natürlich auch für die Schüler, die das dann damals aus der Oberprima, die die Interviews geführt haben, dann ja auch teilweise gewahr wurden durch die Gespräche, dass eben Lehrer, die sie teilweise selber auch noch kannten und hatten, ja Nazis waren. Also auch diese Erkenntnis wiederum bei den Schülern damals in den 70er Jahren, durch diese Gespräche mit den Flakhelfer. Das ist ja eine doppelte Erkenntnis auf deren Seite halt auch. Das ist auch faszinierend. Und der Herr Emunds, der war selber, der ist Jahrgang 1923, war vier Jahre an der Ostfront, war in Kriegsgefangenschaft und der war eigentlich getrieben von dem Gedanken, dass ein Missbrauch an der Jugend in der Form nie wieder stattfinden sollte. Das hat den total motiviert, mit seinen Schülern so ein Projekt zu machen, was sehr, sehr aufwendig war.

00:26:29: Martin Und es war ein Projekt, das offensichtlich als dann dieses Buch erschienen ist "Mit 15 an die Kanonen" hieß das -1974.

00:26:37: Michaela 74

00:26:37: Martin ...erschienen ist, was dann auch große Medien-Aufmerksamkeit erregt hat, und zwar offensichtlich ja nicht nur in den Lokalmedien.

00:26:45: Michaela Ich habe also von einem ehemaligen Schüler, der da an den Interviews beteiligt war, habe ich den ganzen Pressespiegel bekommen aus der Zeit. Das ging von - klar - Aachener Nachrichten damals, auch beim WDR im Fernsehen wurde darüber berichtet, die Rheinische Post hat berichtet, die FAZ bis hin zur New York Times. Also das ist schon sehr beeindruckend.

00:27:04: Martin Ja, also hier die New York Times zum Beispiel. Die hat folgendes geschrieben Die 300 Seiten Studie der Schule mit dem Titel "Mit 15 an die Kanonen" ist soeben von ihrem Lehrer Paul Emunds veröffentlicht worden, und 5000 Exemplare sind bereits verkauft.

00:27:17: Marko 5000 - das ist eine ganze Menge. Also ganz ordentliche Auflage.

00:27:20: Martin Einige ihrer Beobachtungen sind verblüffend, denn es existiert sehr wenig Literatur zu diesem Thema in Ihrem Land. Durch die Studie fanden die Schüler heraus, dass die meisten der im Krieg 15-jährigen erpicht darauf waren, an der Waffe zu dienen, nicht zögerlich. Sie erkannten die Gefahr nicht, sondern erwarteten Abenteuer. Vor allem aber wollten sie wie Männer behandelt werden. Und in jenen Zeiten hieß Männer - Soldaten. Das ist ja erstaunlich, dass da selbst die New York Times über so ein Projekt berichtet. Offensichtlich war das etwas, was man so noch nicht oder jedenfalls bisher nur sehr selten gesehen und gehört hat.

00:27:57: Michaela Ich weiß jetzt nicht genau, wie die New York Times konkret darauf aufmerksam wurde, dass diese Schulstunde ja stattfand. Tatsache ist aber, das war auch, na ja, in Amerika anscheinend wirklich ein interessantes Thema.

00:28:09: Marko Na ja, und wir befinden uns in der Zeit, 20 Jahre vor Guido Knopp. Dass man Zeitzeugen befragt hat und dann eine Aufzeichnung gemacht hat und daraus dann ein Buch gemacht hat. Ich glaube, das war sehr ungewöhnlich, dass ist... Heute nennt man das Oral History und man kann sich darüber die Köpfe heiß reden: Wie viel an Oral History ist denn wahr und wie viel ist da sozusagen geglättet reininterpretiert? Wenn Leute aus der eigenen Erinnerung etwas erzählen.

00:28:36: Martin Das hatten wir ja eben schon das Thema: Also wie authentisch ist das, was die da erzählt haben?

00:28:41: Marko Aber heute ist das ein wissenschaftliches Thema-.

00:28:43: Martin Heute ist das so, Ja.

00:28:44: Michaela Ich würde das so als doppelten Zeitsprung bezeichnen. Eben. Man ist in den 70er Jahren, Erinnerungskultur ist total im Wandel und begibt sich dann als Flakhelfer, also als Zeitzeuge, noch mal in diese Perspektive, wo man selber war als Jugendlicher, um das so einzusortieren mit dem ganzen Background gesellschaftspolitisch, der passiert ist. Ja, das ist die Frage natürlich bei Oral History. Was ist davon - entspricht der Realität? Aber es ist eben die Wahrnehmung, die Realität einer Seite eben dieser Zeitzeugen.

00:29:17: Marko Und du machst sozusagen einen dreifachen Zeitsprung, weil du dir das dann noch mal mit 50-jähriger Verzögerung noch mal angehört hast. Das ist schon erstaunlich.

00:29:26: Martin Aber du hast eben gesagt, dass dieser Lehrer Emunds ja auch durchaus angefeindet worden ist dafür, dass er das eben gemacht hat, Weil das war offensichtlich ja eine Zeit, in der man das nicht gemacht hat, weil die Akteure ja alle noch gelebt haben.

00:29:43: Michaela Aber ja, der Herr Edmunds war nicht unumstritten, weil der hat wirklich den Finger in die Wunde gelegt hat. Also dem war das wichtig, dass Jugend kritisch hinterfragt. Das wollte der seinen Schülern immer und jederzeit beibringen. Das war anstrengend. Der hat gefordert, genau hinzugucken und kritisch zu bleiben. Und das ist im Grunde ein Geist, den ich sehr faszinierend finde als als Person. Ja, das ist anstrengend hinzugucken. Aber dieses kritische Hinterfragen, das ist einfach jederzeit aktuell. Das ist ein absolut zeitloser Ansatz. Und das, das begeistert mich eigentlich bei dieser Schulstudie sehr. Also, dass der Herr Emunds mit seiner, ja ich würde sagen wirklich fast Mission da unbequem war und aneckte und sogar Anfeindung bekommen hat. Das wird zum Beispiel auch im Pressespiegel sichtbar, weil der Rheinische Merkur von damals eben berichtet, dass es da Brief-Aktionen auch gegen den Herrn Emunds gab. Ich glaube bis hin zu so einer Prozess Androhung. Also das war schon wirklich heikel. Der hat das nicht gescheut, sich wirklich mit Leuten anzulegen, die wohl Nazis waren. Offensichtlich.

00:30:46: Marko Zitat aus dem Rheinischen Merkur:.

00:30:49: Martin Nicht nur die Lehren der Vergangenheit, auch solche der Gegenwart ergaben sich für die Schüler aus dem Emunds-Projekt. Manchen Schülern lief es kalt über den Rücken, als sie feststellen mussten, dass unter den Nazis von einst auch Lehrer von heute sind. Was für eine Demokratie muss das eigentlich sein, die das zulässt? Die Jungen hörten manches Peinliches über Persilscheine, die sich die Ex-Nazis nach 1945 besorgten, um sich politisch und beruflich rehabilitieren zu können. Und die KKG Schüler - KKG ist Kaiser-Karls-Gymnasium - die KKG-Schüler bekamen einiges Herzklopfen, als einer der früheren Lehrer, dessen politische Haltung die einstigen Flakhelfer scharf kritisiert hatten, gegen den Projektleiter zu prozessieren begann. Eine anonyme Brief-Kampagne wurde von den Kritikern des Projekts inszeniert. Also das ging da schon ordentlich zur Sache.

00:31:42: Michaela Richtig. Also der, der Herr Emunds hat, das ist nicht das erste Projekt, was der mit Schülern gemacht hat, sondern der war vorher schon aktiv. Der hatte zur Heiligtums-Fahrt in Aachen auch mit Schülern ein sehr kritisches Projekt gestartet. Und von daher ja, hatte der wirklichen Namen.

00:31:58: Marko Nestbeschmutzer.

00:32:00: Michaela Kann man so. Sagen.

00:32:01: Marko So, so, so das. Also ich weiß ja nicht. Also ich meine, das ist natürlich ein Privileg, was wir sozusagen ja noch hatten. Also ich, wir sind alle drei, haben wir eben festgestellt, Jahrgang 1972, das heißt die Generation unserer Großeltern, die wir vielleicht ja noch kennengelernt haben, ich hab meine noch, die haben den Krieg noch erlebt. Und ich weiß noch genau, mein Opa hat darüber nicht gerne erzählt, und meine Oma auch nicht. Ich weiß nicht, wie das bei euch war.

00:32:27: Michaela Ich habe meine Opas gar nicht kennengelernt, weil die im Krieg gefallen sind. Es ist nie wirklich so, sage ich mal, wirklich in der Familien-Geschichte wirklich so breit thematisiert worden.

00:32:38: Marko Und dann kommt ein Lehrer und bittet seine Schüler, wildfremde Menschen auszufragen. Das ist, glaube ich, ein gewagtes Projekt gewesen.

00:32:45: Martin Ja, das denke ich mir auch. Also ein rechter Störenfried offensichtlich dieser Herr Emunds. Nestbeschmutzer, wie auch immer.

00:32:53: Marko Ein linker Störenfried wahrscheinlich.

00:32:56: Martin Was ist denn aus dem geworden eigentlich?

00:32:58: Michaela Der Herr Emunds ist leider 1991 verstorben, kurz vor seinem 68 Lebensjahr. Dem war das immer wichtig, wie gesagt, der war durch sein eigenes Kriegserleben an der Ostfront war ihm das wichtig, diktatorische Tendenzen rechtzeitig zu erkennen. Der nahm das immer in Kauf, dass konträre Auffassungen, dass er sich dem stellt, der Diskussion stellt. Und das war sein Antrieb, das den Schülern auch mitzugeben.

00:33:25: Martin Für dich auch eine faszinierende Figur, offensichtlich.

00:33:27: Michaela Also wenn ein Lehrer sich so dafür einsetzt, sich einem Thema direkt in Auseinandersetzung mit Zeitzeugen Mitschülern zu widmen, dann kann man das eigentlich nur bewundernswert finden. Das wirklich so auch didaktisch rüberzubringen, dass die Leute davon was mitnehmen. Ich weiß nicht, wie es euch geht mit eurer Schulzeit. Mich haben die Lehrer am meisten beeindruckt, die sich mit ihrer Persönlichkeit eingebracht haben, die sich nicht zu schade waren, um um Emotionen zu zeigen, die für ein Thema gebrannt haben. Das ist einfach großartig. Ich weiß nicht, ob das heutzutage noch gehen würde. Ich würde mir das sehr wünschen. Heutzutage sind Lehrpläne so eng getaktet, gerade in Geschichte. Ja, der Rheinische Merkur ist da einfach auch noch mal sehr gut darauf eingegangen. Vielleicht kannst du den noch mal zitieren, Martin.

00:34:12: Marko Der Rheinische Merkur aus dem Jahre 1976, wohlgemerkt.

00:34:15: Martin Aber wer das Aachener Projekt von Anfang bis Ende interessiert begleitet hat, muss diejenigen Lehrplan-Strategen für töricht halten, die sich zum Ziel gesetzt haben, den Geschichtsunterricht zugunsten einer nach ihrer Meinung aktuelleren politischen Bildung zu dezimieren. Praktiziert man Geschichtsunterricht so, wie es das Beispiel skizziert hat, dann ist das zugleich politische Bildung. Natürlich hat die Geschichte ihre Haken und Ösen und ihre Wahrheit kann manchen Menschen wehtun. Aber es ist das Recht der Jugend, unerbittlich nach der Wahrheit zu fragen, weil sie sich vornimmt, es in Zukunft besser zu machen.

00:34:52: Marko Großes Lob also des Rheinischen Merkur 1976 zu dieser Aktion am Kaiser-Karls-Gymnasium in Aachen. Nun, die ganzen Zeitzeugen von damals, die die Schüler befragt haben, leben wahrscheinlich heute nicht mehr. Die müssten ja so annähernd an die 100 Jahre alt sein. Jahrgang 26 27, hast du gesagt. Was ist mit den Schülern?

00:35:12: Michaela Die sind also die leben noch. Das war der Abiturjahrgang 1977. Das heißt, sie sind so um die 59 / 60 geboren. Also ich hatte ja Kontakt zu dem Herrn Schweikert, dessen Onkel wiederum eben auch ein Flakhelfer war. Also der hat da selber...

00:35:33: Marko Also der war Schüler und hatte gleichzeitig einen Flak-Helfer in der Familie.

00:35:34: Michaela Genau richtig, genau. Und auf den Herrn Schweikert bin ich aufmerksam geworden: Ich habe im Vorwort des Buches stehen die Namen der Schüler, die dort beteiligt waren. Und dann habe ich einfach bei Facebook geguckt, ob ich da irgendwie, ob ich da jemanden finde und hab da was gefunden, Kontakt hergestellt, hin und her gemailt, telefoniert. Und der hat mir dann netterweise auch ein Interview gegeben zu dieser Zeit. Wie ihn das beeindruckt hat und das hören wir jetzt.

00:36:04: O-Ton ehemaliger Schüler Es ist eine der nachhaltigsten Erinnerungen an meine Schulzeit. Die Interviews mit den Betroffenen, deren Erlebnisse, deren Schicksale. Das hat uns damals wirklich eindrucksvoll gezeigt, was Krieg bedeutet. Was es bedeutet, wenn Kinder und Jugendliche in den Krieg geschickt werden und was die Folgen davon sind. Gerade jetzt, wo wieder Krieg herrscht in der Ukraine, bin ich wahnsinnig froh, dass ich für diese Themen schon in der Schule so sensibilisiert worden bin. Und ich kann mir nur wünschen, dass die heutigen Schüler-Jahrgänge ähnlich spannende und realistische Einblicke in die Zeitgeschichte bekommen.

00:36:49: Martin Ja, was auch zeigt, dass dieses Thema ja übergreifend ist, dass es eben nicht ein Thema ist, das rein in der Vergangenheit spielt, sei es in den 70er Jahren, Erinnerungskultur zu dieser Zeit oder eben dann ursprünglich im Zweiten Weltkrieg, sondern dass sich die Linien bis heute ziehen.

00:37:07: Marko Nun hat ihn dieses Projekt offenbar nachhaltig geprägt. Und auch du hast dich ja recht lange damit jetzt beschäftigt. Du hast die ganzen Leute ausgegraben, du hast die O-Töne ausgegraben, du hast noch 45 Stunden Material da liegen. Hast du irgendwelche Pläne damit? Geht es damit irgendwie weiter?

00:37:25: Martin Ja, das ist mir schon wichtig. Ich möchte jetzt nicht, dass dieses Material da jetzt weiter ruht, sondern dass das, was eben noch an ungehörten Geschichten, dass das weitergetragen und weiter gehört wird. Also im Zuge der ganzen Recherchen habe ich unheimlich viele Vernetzungen, sage ich mal, vorgenommen. Ich war beim Stadtarchiv, habe Luftbilder mir angeguckt. Wo waren die Flak-Stellungen? Ich habe zu den Heimatverein Kontakt gehalten, ich habe Kontakt aufgenommen zu Ostbelgischen Institutionen. Ich mache mit Kollegen zusammen von Audio Textur, das ist eine Podcast Agentur, sind wir dran. Wir haben Kontakte nach Ostbelgien zu Ostbelgischen Institutionen geknüpft. Da sind Dinge in der Mache, sage ich mal, das ist genauso wie mit einem schuldidaktischen Projekt, was ich gerne auch mit meinen Kollegen machen möchte. Ein bisschen so im Sinne, ich hoffe das ist nicht vermessen zu sagen, aber so im Sinne von diesem Geiste, von diesem Herrn Emunds, dass man mit diesen Tonbändern wieder arbeitet im Schulunterricht, sich die Fragen stellt: Was hat das eigentlich mit mir heute zu tun, als jetzige Schülergeneration im Jahre 2023 oder 24? Es muss ein Bezug zum Hier und Jetzt geben für Jugendliche und eben um das kritische Denken auf jeden Fall zu fördern und vielleicht mit diesen Tonbändern zu arbeiten, also mit Audiomaterial Schülern jetzt in einem neuen Format das näherzubringen das Thema Idealismus der Jugend. Wie verführbar ist Jugend? Und das ist ein total zeitloses Thema. Wofür wird Jugend missbraucht? Und das ist ja auch ein Thema, was ich natürlich gerade auch im aktuellen Geschehen in der Ukraine und in Russland ja auch niederschlägt. Also...

00:39:02: Martin Von gestern - wie es der Zufall will: Wir zeichnen im Juli 2023 auf und just kam die Meldung von Spiegel Online vom 24. Juli 2023: Russlands Schulkinder sollen Umgang mit Kampfdrohnen lernen. Da heißt es, dass allen russischen Schulkindern die Grundlagen der Bedienung von Kampfdrohnen beigebracht werden soll, zusätzlich mit der Ausbildung am Sturmgewehr und dem Umgang mit Handgranaten. Dieser Plan soll ab dem 1. September 2023 verpflichtend sein. Und das Verteidigungsministerium schreibt dazu, es sei ein Versuch, die Kultur des militarisierten Patriotismus zu kultivieren. Also das passt unangenehm gut auf unser Thema, was wir heute besprochen haben.

00:39:53: Michaela Kindersoldaten gibt es nicht nur in Sierra Leone, in afrikanischen Staaten, sonst wo, sondern ja, die gab es auch in Deutschland. Ich hoffe einfach, dass man mit so einer Betrachtungsweise, mit solchen Zeitzeugenberichten in der Lage ist aufzuzeigen, dass es da kein schwarz-weiß gibt, sondern es gibt auch ganz viel Grau dazwischen in der Geschichtsbetrachtung. Also wenn man selber jetzt sagt, aus einer sicheren Position als 72er Jahrgang: Mensch, da hätten wir damals doch nie mitgemacht. Ja, wie, wie konnte man nur? Ich glaube, ich werde da so ein bisschen ehrfürchtiger und respektvoller, wenn ich solche Gespräche höre, weil ich nicht weiß, ob ich damals genauso gehandelt hätte. Und das finde ich spannend dabei, dass man ja ein bisschen, ein bisschen differenzierter - das ist der Wunsch, dass man Geschichte differenziert betrachtet, bevor man vorverurteilt.

00:40:47: Marko Sagt Michaela Natschke, die in den letzten beiden Folgen bei uns zu Besuch war.

00:40:52: Martin Wir sagen noch mal ganz herzlichen Dank an die Kollegin aus Aachen.

00:40:55: Michaela Ja, ich danke euch, dass ihr mich eingeladen habt und das war für mich auch ein sehr interessantes Gespräch mit euch beiden.

00:41:01: Marko Wenn euch diese Folge von die Geschichtsmacher gefallen hat, dann sagt es weiter an Freunde, Bekannte, Verwandte.

00:41:06: Martin Und wenn es euch nicht gefallen hat, dann sagt es bitte uns...

00:41:10: Marko Aber bitte nur uns unter www.diegeschichtsmacher.de findet ihr unsere Adresse, wo ihr uns schreiben könnt und noch viele weitere Folgen von Die Geschichtsmacher. Wir hoffen, dass ihr uns treu bleibt. Wir sagen Tschüss. Bis zum nächsten Mal.

00:41:23: Marko Tschüss.

00:41:24: Michaela Auf Wiederhören.

Kommentare (2)

Christiane1970

Was für eine tolle, vergangene Realität nachvollziehbare Serie! Reinhören! Zuhören!

Harald Nickoll

Danke, für den Bericht. Sehr beeindruckend!

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